Von der Genese eines Theaterstückes, diversen Qualen und reinigenden Gewittern

Zimmertheater Steglitz: Wie ein Theaterstück entstehtKarel Čapek-Abend mit Valentin Leivas und André Rauscher 

Berlin, 12. März 2022: Nach Heine-, Tucholsky- und Thomas-Bernhard-Abend durften wir nun auch einen Karel-Čapek-Abend im Zimmertheater Steglitz genießen. Karel Čapek (1890 bis 1938) – einem größeren Publikum vielleicht eher bekannt durch seine Romane Hordubal und Der Krieg mit den Molchen – legte 1933 mit Wie ein Theaterstück entsteht ein Werk vor, das keineswegs nur Theaterleuten gefallen dürfte. Gerade auch für jene, die jenseits des Vorhangs sitzen und sich aufs Konsumieren konzentrieren, bietet die Welt des Theaters und Theatermachens interessante Einblicke. Und das auch noch fast 90 Jahre nach dem Erscheinen des Werkes. Dabei sind die Vorgänge um Autoren, Regisseure, Schauspieler, Requisiteure, Bühnenbildner etc. bei Čapek nicht immer bierernst zu nehmen und gleichzeitig eben aber doch genau das.
Valentin Leivas und André Rauscher boten Čapeks Stück in Form einer szenischen Lesung dar. Dachte ich anfangs noch: Warum Lesen und nicht gänzlich spielen (?), so erklärte sich dies im Verlaufe des Abends von selbst und André Rauscher betonte nach der Vorstellung, dass es sich hierbei nicht um ein Theaterstück handelt, zudem gebe es mehr als zwei Rollen und zahlreiche Erzähltexte dazwischen. So habe man die Aufführung der Art des Werkes angepasst. Und somit ist es eine runde Sache.
Die Zuschauer erfuhren in den gut eineinhalb Stunden dieser Premieren-Vorstellung also die Genese eines Theaterstückes von der Ankunft im Theater bis zur Premiere, erfuhren, welche Qualen der Autor auszustehen hat, aber auch der Regisseur. Sie erfuhren weiter auf witzig-ironische Weise von Schauspielern, die gerade nicht spielen können, von unfertigen Requisiten und Garderoben, von Donnerwettern und reinigenden Gewittern und fragen sich bisweilen amüsiert, wie das denn am Ende alles klappen soll. Und doch: Es klappt. Irgendwie. Wenn auch anders als geplant. Aber egal. Das Publikum bei Čapek merkt scheinbar ohnehin nicht, dass das wichtigste Stück im Stück fehlt und auch die Kritiker kriegen ihr Fett weg, der eine schreibt so, der andere so und der arme Autor weiß am Ende gar nicht mehr, ob sein Stück eigentlich gefällt oder nicht. Und der Regisseur ebenso nicht. Zwar gibt es großen Applaus, doch wie kann der wahrhaftig sein, wenn das Stück durch den Premierenfehler gar nicht verständlich werden konnte?
Im Zimmertheater gabs am Samstag keine Premierenfehler, die Einblicke ins Theatermachen waren informativ, interessant, eindrucksvoll, unterhaltsam und vergnüglich. So war der Applaus am Ende durch das Verständnis für das Werk durchaus ernst zu nehmen und ebenso ernst gemeint und diese Rezension ist es auch. © Kerstin Weber

Gekipptes Bild mit Medea wieder aufgerichtet

Mein gekipptes Bild vom Berliner Ensemble (siehe unten) hat sich Anfang des Monats beim Besuch der Vorstellung von Medea wieder aufrichtet. Da bin ich aber froh, Mann Mann Mann. 🙂

Stichwort-Rezension: Günter Rüdiger mit Tucholsky-Abend im Zimmertheater

Berlin, 5. Februar 2022. Zimmertheater Steglitz. Anregende Mischung aus Information und Unterhaltung. Kurt Tucholsky mit Vielseitigkeit in seinen Texten – Günter Rüdiger mit ebensolcher in seinem Programm: Sprechend. Rezitierend. Singend. Schauspielend. Sein direktes Zugehen auf das Publikum. Dieses ist bei der Sache. Denkt mit. Lacht mit. Will beinahe mitspielen. Den Tucholsky haben wir besser kennen gelernt. Und zudem erfahren, woher die Löcher im Käse kommen (Titel des Programms). Etwa fünf Zugaben – Alle Achtung!  © Kerstin Weber

Stichwort-Rezension: Junges Orchester der FU mit Schubert und Grieg

Berlin, 28. Januar 2022. Emmauskirche Kreuzberg. Tolles Konzert des Jungen Orchster der FU Berlin. Mit Schuberts Grosser C-Dur-Sinfonie. Und Griegs Klavierkonzert d-Moll Opus 16. Letzteres gefiel uns sehr gut. Melodiös. Erfrischend. Gefällig. Applaus für das Spiel des 19-jährigen Pianisten Daniel Streicher. Und für das anmutige Dirigieren von Antoine Rebstein. © Kerstin Weber

Quirliges Springen mit schnellen Fingern über die Tasten

Kammermusiksaal der Philharmonie: Axel Zwingenberger mit Boogie-Woogie Hits

Berlin, 7. Januar 2022. Axel Zwingenberger erfrischte uns mit flotten Rhythmen. Mich indes bereits zum zweiten Male. Vor gut 15 Jahren hatte ich ihn schon einmal erlebt und auch damals beeindruckte mich sein Spiel auf dem Flügel. Das hat natürlich auch etwas mit der Musik zu tun, der Boogie-Woogie ist aus Takt-Gründen an sich schon mitreißend, Axel Zwingenberger zelebriert diesen zudem vortrefflich, schiebt einen kleinen Blues dazwischen und erzählt über seine Sessions mit den Großen dieses Genres.
In das Spiel steigert er sich hinein, springt quirlig mit den schnellen Fingern über die Tasten, wippt dabei permanent mit dem rechten Fuß im auffälligen roten Lackschuh und ist selbst so begeistert vom Spiel und der Musik, dass es eine Freude ist, ihm sowohl zuzuhören als auch zuzuschauen. Und was ist anders im Vergleich zu früher? Nun er ist – wie wir alle – ein bisschen älter und grauer geworden, sein Spielfreude dagegen ist nicht gealtert und ergraut, sie ist ungebrochen und fasziniert. Sein Spiel ist – so scheint mir – noch virtuoser geworden. Ein Genuss also, diesem Meister auf den Tasten einmal mehr live zu erleben und schließlich selbst beschwingt und erhitzt in die kühle Januar-Nacht hinaus zu gehen. © Kerstin Weber

Western-Style, getunte Sprache und platte Witze

Berliner Ensemble: Enttäuschend niederschwelliger Klamauk mit dem Diener zweier Herren

Berlin, 8. Januar 2022. Eigentlich wollten sich keine schwarzen Worte auf weißen Untergrund bringen lassen für diese Inszenierung. Gedacht: Ja. Enttäuscht: Ja. Flüchten wollend: Ja. Und dann auch noch darüber schreiben: Nein. Und nun doch. Ein paar wenige Worte.
Am Anfang war es tatsächlich mein Fehler: Ich hatte da etwas anderes im Gedächtnis gehabt, als ich micht entschied, im Berliner Ensemble Goldonis Der Diener zweier Herren in der englischsprachigen Bearbeitung von Antú Romero Nunes zu sehen. Bauschen wir das anstrengende zweistündige Unten-Schauen-was-passiert und Oben-lesen-was-gesagt-wird nicht auf, es reicht, sich an Stück und Inszenierung aufzureiben.
Von Natur aus schon nicht hintergründig oder gar tiefsinnig (ja ja, das muss es auch geben), wurde das Ganze nun auch noch in den Western-Style gesetzt. Denke, denke: Warum? Keine Ahnung. Neben platten Witzen ward auch die Sprache getunt und platt, sehr gegenwärtig und bisweilen banal. Denke, denke: Warum? Keine Ahnung.
Dabei will ich ganz ausdrücklich betonen, dass die Schauspielerinnen richtig gut waren, insbesondere Stefanie Reinsperger, die ein großes komödiantisches Talent bewies.
Was da allerdings aufgebläht und nicht enden wollend über die Bühne tobte, war ganz einfach Klamauk. Na klar, der hat auch seine Berechtigung, wie so vieles heutzutage. Nur waren wir hier nicht in einem Theater, in welches wir genau deshalb gehen würden (rein theoretisch), wir waren im Berliner Ensemble. In DEM Berliner Ensemble!
Das passte also für mich nicht zusammen und so kippte mein Bild von diesem Theater, das für mich als eines der letzten der Hochkultur dieser Stadt galt, entschieden in die Schieflage (siehe Foto). Mal schauen, ob es sich bei den nächsten Besuchen wieder aufrichtet. © Kerstin Weber

 

Wenn die Worte nicht mehr ausreichen, kommt die Musik dazu

Zitadelle Spandau: Jochen Kowalski und Prof. Günther Albers mit Enoch Arden im Gotischen Saal

Berlin, 6. November 2021. Jeden Moment meint man, er müsse zum Gesange anheben, doch nein, das tut er nicht. Nicht ein einziges Mal bindet er die Stimme an die Noten, vereint er melodische Sequenzen. Nicht aus ihm heraus kommen dieses Mal die musikalischen Töne, sondern ganz allein aus dem Flügel.
Der weltberühmte Countertenor Jochen Kowalski erzählte im passenden und ansprechenden Ambiente des Gotischen Saales der Zitadelle Spandau eine Geschichte, er las Enoch Arden, ein literarisches Werk von Alfred Tennyson aus dem Jahre 1864, das auf Regisseure und Schauspieler in der Vergangenheit immer wieder einen besonderen Reiz ausübte, so dass sie sich mit diesem Werk auseinandersetzten. Selbiges tat Richard Strauss im eigenen Metier, der musikalischen Form.
Seit einigen Jahren beschäftigt sich Jochen Kowalski mit dem Konzert-Melodram, es spricht ihn an, zum einen in der Rezitation, zum anderen in der Verbindung der beiden Genres. Wenn die Worte nicht mehr ausreichen, kommt die Musik dazu und das ist etwas ganz Fantastisches sagte er vor geraumer Zeit in der Bremer Talkshow 3nach9.
Das fanden vermutlich auch die Besucher, die am Samstag in den Genuss des Konzert-Melodrams Enoch Arden kamen. Jochen Kowalski las und Prof. Günther Albers begleitete am Flügel. Wenngleich der Begriff las natürlich stark untertrieben ist. Kowalski las nicht einfach vor, er rezitierte, ja er spielte das Werke geradezu in den Zuschauerraum hinein, mal leise zurückhaltend, mal laut, dramatisch, ergreifend. Beinahe wie ein Schauspieler (der jeder Sänger zu sein wünscht, wie er in besagter Talkshow bekannte), aber doch nicht ganz, mehr noch wie der Sänger, der zwischen dem Gesange die Worte spricht: Akzentuiert, deutlich, nachdrücklich, hochkonzentriert, eindringlich, inbrünstig und stets emotional.
Als die letzten Töne und Worte verklungen waren und der Applaus durch den Saal hallte, kam da noch einmal eine kleine Hoffnung auf, er möge vielleicht die Stimme zum – abschließenden, gern auch nur ganz kurzen – Gesange erheben. Aber nein – dieses Mal nicht. © Kerstin Weber

Die Synästhetischen Mandalas (SyMas) von Jochen Kowalski finden Sie hier.
Auf der Homepage von Jochen Kowalski findet sich ein Hinweis auf meine Rezension (Bitte nach unten scrollen!): Hier

Die großen Leute sind entschieden sehr, sehr wunderlich

Theater im Delphi: Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz mit Klamauk und Kauderwelsch

Berlin, 25.Dezember 2021. Nach vier Hochkultur-Konzerten in Philharmonie und Konzerthaus dachte ich mir dieser Tage: Warum sich nicht auch einmal wieder ein gutes literarisches Theater-Erlebnis gönnen?!
Und so begab ich mich erwartungsfroh ins Theater im Delphi – bekannt für interessante und außergewöhnliche Inszenierungen der Drehbühne Berlin – um Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz zu erleben.
Und zunächst fühlte ich mich auch recht wohl. Die beiden Schauspieler der Sprech-Szenen spielten gut und entsprechend der Vorlage, wurden von Live-Musik begleitet und die diversen Planetenbewohner, denen der kleine Prinz auf seiner Reise begegnet, konnte das Publikum auf der Leinwand eingespielt sehen. Eine tolle und kreative Mischung, die das Ganze abwechslungsreich machte. Und dabei hätte man es auch bewenden lassen können. Leider jedoch gab es zusätzlich ein Puppenspiel, welches die schöne Inszenierung nicht etwa positiv potenzierte, sondern eher zerstörte. Nun mögen Schlange, Geier, Ratte etc. eine Auftritts-Berechtigung haben, warum aber in dieser schrillen Dümmlichkeit? Da faseln zwei Geier minutenlang ein Kauderwelsch, das niemand versteht, gehen aufeinander los, brüllen, z.T. mit hoher hysterischer Stimme, so dass ich mich frage: Was soll jetzt dieser Klamauk? Teile des Publikums, vor allem die Kinder (aber keineswegs nur) fanden diese Szenen ganz besonders lustig. War das am Ende der Grund, das Stück mit solch niederschwelligen Albernheiten zu versehen, um auch noch dieses tolle, hintergründige Werk als Mainstream massentauglich zu machen? Als ob es davon nicht schon genug gäbe.
Mit den Worten des kleinen Prinzen stelle ich einmal mehr fest: Die großen Leute sind entschieden sehr, sehr wunderlich.
So begegne ich den kleinen Prinzen lieber ganz privat beim Lesen, dann nerven mich nicht auch noch zusätzlich die polternden Füße gelangweilter Kinder, die laut schnäuzenden und noch lauter plappernden Mütter.
Ich tat, was ich wirklich selten tue: Ich ging in der Pause. Es war mir ein Bedürfnis. © Kerstin Weber

Fragen in den Köpfen der Zuschauer platziert

Theater unterm Dach: Kafkas Forschungen eines Hundes

Berlin, 23. Oktober 2021. Ist der Hund der Mensch? Ist der Mensch der Gott? Kann der Hund mit seinem Verstand den Menschen nicht fassen, wie der Mensch Gott nicht fassen kann?
Diese und ähnliche Fragen mag man sich stellen bei Franz Kafkas Erzählung Forschungen eines Hundes (1922, Nachlass), die das Theater unterm Dach jetzt auf die Bühne brachte.
Regisseur Fabian Rosonsky erzählte uns im Anschluss an das Ein-Mann-Stück, dass er vor einiger Zeit Corona bedingt genau das hatte – ein bissl Zeit – und überlegte, was man denn als nächstes spielen könnte, wenn man denn endlich wieder spielen darf. Ich griff ins Regal und hatte einen Kafka-Band in den Händen, so Rosonsky. Seine Wahl fiel eben auf jenen nicht leicht zu spielenden und nicht leicht zu verstehenden Text, der irgendwie typisch Kafka ist und doch auch wieder nicht. Die vielen Fragen, die er aufwirft, können keineswegs auf die Schnelle beantwortet werden. Schauspieler Ulrich Hoppe aber bemüht sich gut 70 Minuten lang, diese zumindest einmal nachdrücklich in den Köpfen der Zuschauer zu platzieren. Er berichtet, fragt, zweifelt – zutiefst menschliche Anwandlungen – er jault, bellt, frisst – zutiefst hündische Eigenschaften. Tja – entscheiden Sie selbst, wie viel Hund und wie viel Mensch uns da gegenüber steht! Gelegenheit dazu gibt es am 6. und 7. November, jeweils 20 Uhr im Theater unterm Dach. Und auch für das kommende Jahr sind weitere Vorstellungen geplant. © Kerstin Weber

Männerquartett ehrt Thomas Bernhard

Zimmertheater Steglitz: Premiere – Thomas-Bernhard-Abend

Berlin, 8. Oktober 2021. Als Lesung in diversen Medien angepriesen, ist es viel mehr als das: Eine schauspielerische Lesung, ein gelesenes Schauspiel. Wie auch immer, Richard Maschke, Günter Rüdiger, Marcus Weiß und Andreas Schmidt-Hartmann (Piano) lassen den österreichischen Autor Thomas Bernhard (1931 bis 1989) im Zimmertheater Steglitz auferstehen.
Thomas Bernhard 90 – Tatsächlich eine Komödie lautet der Titel des Abends, mit dem die vier Künstler an diesem Freitag ihr Publikum unterhalten, erfreuen und bisweilen sogar zum Lachen bringen. Letzteres mag erstaunen, wird Thomas Bernhard, der nicht einmal für Marcel Reich-Ranicki leichte Kost war, kaum mit Humor oder gar belustigender Unterhaltung verbunden. Und ganz so ist es dann natürlich auch nicht, wie beispielsweise beim Stück Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen (1986), einer fiktiven Unterhaltung zwischen Thomas Bernhard und Claus Peymann, denn oft sind die Lacher sehr vordergründiger Natur, während sich dahinter der Galgenhumor versteckt bzw. dem Zuschauer das Lachen im Halse stecken bleibt, wenn sich am Ende einer Geschichte, wie z.B. Die Mütze (1986), alles ins Tragische verkehrt und somit jeder vorangegangene Lacher ad absurdum geführt wird. Der Leser hat mit dieser Geschichte einen sehr schwierigen Prosatext vor sich, an dem schon mancher Literaturfreund mit seinen Interpretationsversuchen gescheitert ist schreibt Wilhelm Kesting in einer Kritik. An diesen schwierigen Text wagt sich Günter Rüdiger heran, liest und spielt diesen zweigeteilt vor und nach der Pause und erzeugt durchaus den einen oder anderen Lacher, der sich durch den Text selbst ergibt wie ebenso durch die passende Mimik und Gestik. Doch wie gesagt, kommt das Ende alles andere als humorig daher: Der Protagonist, der die ganze Zeit über versucht, den Besitzer einer gefundenen Mütze zu finden, bekennt am Ende, dass er nicht nach Hause gehen will, weil dort die Einsamkeit über ihn kommt. Hat er deshalb die so sinnlos erscheinende Suche begonnen? Da gibt es dann tatsächlich nichts mehr zu lachen.
Richard Maschke ist der Thomas-Bernhard-Kenner und hat den Großteil der Texte dieses Abends ausgesucht, erfahren wir im Gespräch nach der gelungenen Premiere von den Schauspielern. Schnell entwickelt sich eine angeregte Unterhaltung – das ist toll – denn wo kann sich der Rezipient heute schon noch unmittelbar nach der Vorstellung oder überhaupt mit den Künstlern über das soeben Gesehene und Gehörte austauschen? Im Zimmertheater mit dieser ganz eigenen angenehmen familiären Atmosphäre ist das möglich.
So ist es durchaus auch an der Zeit, einmal Danke zu sagen, danke insbesondere an Günter Rüdiger, der sich trotz aller Schwierigkeiten (keine Corona-Hilfe, 7 Monate Schließung) immer wieder etwas Neues einfallen lässt, durchhält und den Mut nicht verliert. © Kerstin Weber

Mit Andeutungen eine Ahnung von den Abgründen

Renaissance-Theater: Amazing family – Die Reise der Familie Mann

Berlin, 9. Juli 2021. Thomas ist Heinrich. Heinrich ist Thomas. Am Anfang hatte ich Probleme mit der Zuordnung, denn Thomas sah aus wie der echte Heinrich und umgekehrt. Vielleicht ist das Zufall in dem Sinne, dass die Schauspieler die Rollen so übernahmen, wie sie sie eben übernahmen. Vielleicht ist es Absicht des Regisseurs Torsten Fischer, der zeigen will, wie ähnlich sich die beiden Brüder bei aller Unterschiedlichkeit doch sind.
Nach zehn Minuten konnte ich mit der optischen Verwechslungs-Möglichkeit umgehen, nicht zuletzt, weil die Namen oft genug genannt werden. Übrigens nicht nur diese beiden, sondern auch die von Katia, Klaus und Erika. Die kann der Nichtkenner der Mann’schen Familie sicher noch zuordnen, wohin gegen so mancher bei der Therese, der Pamela und dem Gustaf schon überlegen muss. So lässt der Regisseur seine Figuren klugerweise erklären, wer die Figuren sind, nämlich die Giehse, die Wedekind und der Gründgens, deren Bezug zur Familie gleich noch mit angedeutet wird.
Die innere Dramatik der Familie Mann nimmt in dem beinahe zweistündigen Stück einen breiten Raum ein, zu Beginn insbesondere die der Brüder Thomas und Heinrich, die sich nicht nur in ihren politischen Auffassungen und Aktionen unterscheiden, sondern auch in ihrer Lebenseinstellung und in ihrem Lebenswandel. Während Heinrich Mann (Markus Gertken) der Bohémien ist, entscheidet sich Thomas Mann (Peter Kremer) schon früh für ein bürgerliches Leben, u.a., indem er sich gezielt die junge Katia Pringsheim (Imogen Kogge) als Ehefrau aussucht. Seiner homoerotischen Fantasien und Lieben, auf die Heinrich im Stück mit spitzer Zunge hinweist, muss Thomas sich vor allem in jungen Jahren selbst so gut wie möglich erwehren, die Tagebücher aus jener Zeit könnten Aufschluss darüber geben, doch die hat er vernichtet.

Die Bürgerlichkeit des Zauberers und Gründgens mit der Mephisto-Maske

Gegen die bürgerliche Fassade rennen Erika (Judith Rosmair) und vor allem Klaus (Boris Aljinovic), die älteren von sechs Kindern Thomas Manns, permanent an. Der Zauberer, wie sie den Vater nennen, ist für sie weniger Vater, sondern der Herr im Haus, nach dem sich alle zu richten haben. Sie haben ruhig zu sein, wenn er des Vormittags schreibt und wenn er des Nachmittags ruht. So verwundern die enge Beziehung der beiden Ältesten zueinander ebensowenig wie ihre sehr konkret angedeuteten chaotischen und in vieler Hinsicht ausufernden Eskapaden.
Nicht leichter werden die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander, als sich die politischen Ereignisse ab 1933 verschärfen und sich die Familie schließlich genötigt sieht, zunächst in die Schweiz und dann in die USA zu emigrieren. Als Gegenspieler lässt der Regisseur hier Gustaf Gründgens (Guntbert Warns) agieren, der im Stück zu einem Protagonisten wird, obwohl er doch nur kurzzeitig als Erikas Gatte ein Familienmitglied der Manns ist. Klaus stellte dem Schwager in seinem Roman „Mephisto“ ein wenig rühmliches Zeugnis aus und Torsten Fischer lässt die Romanfigur Hendrik Höfgen mit seiner Mephisto-Maske auftreten, die sich im Übrigen nicht von jener der Figur Gustaf Gründgens unterscheidet.
Aus der Fülle an Informationen und heute bekannten Gegebenheiten aus dem Leben der Familie Mann die wichtigen herauszufiltern, ist ein schwieriges Unterfangen. Torsten Fischer ist das in diesem ansprechenden und anspruchsvollen Stück gut gelungen. Der Kenner kann kaum etwas vermissen, die Abgründe sind greifbar und durch die jeweiligen Andeutungen vermitteln sie eine Ahnung. Möglicherweise ist das Gründgens-Thema in Bezug auf das Gesamtkonzept ein wenig zu lang geraten, dennoch ist es deswegen nicht uninteressanter, ganz im Gegenteil.
Zu erwähnen seien am Ende noch die musikalische Untermalung am Piano durch Harry Ermer sowie die tolle Verwandlungsfähigkeit Noëlle Haeselings, die gleich in mehrere Rollen schlüpft. © Kerstin Weber

 

Bühnenelemente und Figuren im Pirouetten-Taumel

Berliner Ensemble: Ibsens Gespenster geistern in schwarzem Dunkel über die Bühne

Berlin, 9. Oktober 2020. Die Lebenslüge trägt Trauer. Sie ist schwarz. Schwarz wie die Kleidung der Protagonisten auf der Bühne des Berliner Ensembles, schwarz wie die sich ständig verändernden Kulissen, schwarz wie der nur dunkel zu erahnende Himmel über dem Landgut der Alvings. Die Lebenslüge der Helene Alving (Corinna Kirchhoff) bleibt so lange im Dunkel der Verdrängung, bis die Gewitterwolken sich krachend über der Familie entladen und den Schmutz der Vergangenheit noch schmutziger machen.
Hätte die liebende Mutter denn ahnen können, was der Arzt im fernen Paris dem kranken Sohne offenbarte: Da ist von ihrer Geburt an etwas Wurmstichiges in ihnen. […] Die Sünden der Väter werden heimgesucht an ihren Kindern. Osvald Alving (Paul Zichner) glaubt, der Vater sei ein ehrenwerter Mann gewesen, doch das war er keineswegs, der Verblichene nahm es mit der Treue nicht so ernst, ganz im Gegenteil. Bei einer seiner Eskapaden hatte er das Dienstmädchen geschwängert, das eiligst mit Tischler Engstrand (Wolfgang Michael) vermählt wurde und deren Tochter Regine (Judith Engel) nun ahnungslos im Hause Alving lebt.
Osvald – schon gezeichnet durch die dem Vater zu verdankende Syphilis – verliebt sich prompt in das schöne Geschöpf, was Alvine freilich zu verhindern sucht. Klagevoll äußert sie die berühmten Worte zu sich ebenso wie zu Pastor Manders (Veit Schubert): Als ich Regine und Osvald da drinnen hörte, war es mir, als ob ich Gespenster vor mir sah. Aber ich glaube fast, wir sind allesamt Gespenster, Pastor Manders. Es ist ja nicht nur, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, das in uns herumgeistert; auch alte, abgestorbene Meinungen aller Art, alte, abgestorbene Überzeugungen und ähnliches. Sie sind nicht lebendig in uns; aber sie sitzen doch in uns fest, und wir können sie nicht loswerden. Wenn ich nur eine Zeitung zur Hand nehme und darin lese, sehe ich solche Gespenster zwischen den Zeilen herumschleichen. Die scheinen im ganzen Land zu leben. Sie scheinen so zahllos zu sein wie Sandkörner. Und darum sind wir auch so gotterbärmlich lichtscheu, wir alle miteinander.
Eine weise Aussage inmitten dieser schwarzen Lichtscheue, dennoch zögert sie, die Wahrheit in Gänze zu offenbaren bzw. wird in den entscheidenden Augenblicken gestört. Für Osvald ist es ohnehin nur noch von sekundärer Bedeutung, denn er ist bereits vom Wahnsinn gekennzeichnet, dem er am Ende verfällt.

Rauminhalte erneuern sich wie durch Geisterhand

Die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik setzt in ihrer Inszenierung des Stückes von Henrik Ibsen (1828 bis 1906) glücklicherweise nicht auf Sparsamkeit, weder bezüglich der Worte, noch hinsichtlich der Kulissen. Die Kostüme der Protagonisten sind dem Stück gemäß, die Räume, in denen sie sich bewegen, sind sichtbar gemacht, jenseits der Kargheit, wie sie in so mancher Inszenierung als chic verkauft wird oder vielleicht auch auf das Wesentliche reduziert. Die vorherrschende Farbe ist Schwarz, das Dunkel ist überall, um die Figuren herum, in ihnen, in ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die Drehpunkte der drei rotierenden Bühnenteile bewegen sich um die eine Mitte, in welcher die wichtigsten Aussagen gemacht werden, in denen das Geschehen in Fahrt kommt, in welcher schließlich auch das böse Ende naht. Mitunter gestaltet sie sich jedoch auch als mittiges schwarzes Loch, wenn die Akteure rechts und links davon zwar miteinander sprechen, jedoch nicht direkt, sondern in den Raum hinein, als sprächen sie aneinander vorbei.
Bei den häufigen Szenenwechseln im – an Türen überreichen Gartenzimmer – der Familie Alving erneuern sich die Rauminhalte im Hintergrund scheinbar wie von selbst, wie durch Geisterhand veränderen sie sich, dank der bisweilen gar nicht so unsichtbaren „Gespenster“, die im off die Bühnenelemente den neuen Szenen anpassen und diese geschwind um ihre eigenen Achsen drehen – ganz wie die Figuren, die aus ihrem Pirouetten-Taumel kaum hinauszufinden in der Lage sind. © Kerstin Weber

Blick vor und zurück: Hinter uns die Zukunft

Wühlmäuse: Thomas Freitag – Premiere des neuen Programms mit autobiografischen Zügen

Berlin, 7. Oktober 2020. Das neue Programm ist eine rasante Mischung aus spitzzüngigen Aktualitäten, biografischen Bonmots und bewährten Nummern. Es ist sein 18. Soloprogramm und mit Abstand sein persönlichstes… so heißt es auf der Website des Kabarettisten, der vor wenigen Monaten seinen 70. Geburtstag feierte. Es trägt denselben Titel wie seine in diesem Jahr erschienene Autobiografie – Hinter uns die Zukunft – von der es im Untertitel des Buches heißt: Mehr als eine Autobiografie.
Das Buch lag auf dem Tisch, als der gelernte Bankkaufmann die Bühne betrat, bereit, aus diesem zu zitieren und Geschichten aus Kindheit, Jugend und jungem Erwachsenenalter zu präsentieren. So gestaltete sich das neue Soloprogramm weniger als kompakter Kabarett-Abend, sondern als Mischung aus Erzählung und Lesung mit kabarettistischen Einschüben. Ein vermutlich auch für den eingefleischten Kabarettisten ungewohntes Vorgehen, was in Verbindung mit der ersten Aufführung vor Publikum bei der Premiere zu einer Reihe von Stolperern führte und zumindest beim autobiografischen Berichten noch nicht so ganz frisch, frei, fröhlich heraussprudelte. Ganz andere bei den kabarettistischen Teilen des Programms, hier zeigte sich die Vertrautheit mit dem Metier und das sich „Zu-Hause-Fühlen“ im Genre deutlich, wie beispielsweise im Streit-Dialog Jugendlicher nicht in der heutigen Un-Sprache, sondern in gehobener Sprache früherer Zeiten.
Sehr eindringlich auch der Brief der Ameisen, dessen Inhalt zeigt, wie wenig der Mensch den Titel Krone der Schöpfung doch verdient und der einen konkreten Bezug zum Titel des Programms hat, da sich doch zeigt, wie wenig die Zweibeiner aus ihrer Vergangenheit gelernt haben, da liegt die Zukunft tatsächlich weit hinter uns.
Wer es noch nicht wusste, erfährt von den Anfängen des Thomas Freitag als Schauspieler und Kabarettist in den 1970er Jahren am Stuttgarter Renitenztheater und von seinen Begegnungen mit Gert Fröbe und Dieter Hallervorden. „Ist er zufällig heute hier“ fragte Thomas Freitag in den dunklen Zuschauerraum und eine Hoffnung ging durch den Saal, dass der künstlerische Leiter der Wühlmäuse durch eine Seitentür hereinspaziert, die Bühne betritt und sich einen kurzen kabarettistischen Wortwechsel mit dem jüngeren Kollegen gibt. Was leider nicht geschah.
Aber natürlich konnte Thomas Freitag sein neues Soloprogramm auch prima allein über die Bühne bringen, zumal es aufgrund der derzeitigen Situation auf 75 Minuten ohne Pause beschränkt war, eine Variante, welche in den Wühlmäusen als Corona-Edition präsentiert wird. Weshalb Freitag am Premierenabend nach viel Applaus und Buchsignierung im Foyer eben wegen der Dezimierung des Publikums sein Programm gut zwei Stunden später gleich noch einmal zum Besten gab. © Kerstin Weber

Durchlauferhitzer mit drei talentierten Solisten

Philharmonie: Neues Züricher Orchester mit Festkonzert zu 30 Jahre Wiedervereinigung

Berlin, 3. Oktoberber 2020. Nach einem etwas schleppend sich dahinziehenden Einlass, für den die Philharmonie bereits eine Stunde vor Konzertbeginn ihre Türen öffnete, schafften es mit Unterstützung durch farbige Markierungen und die Hilfe der freundlichen Damen und Herren im Hause dennoch alle Besucher, rechtzeitig zu ihren Plätzen zu gelangen. Bei dem einen oder anderen im spärlich besetzten Saale dürfte es wohl gut ein halbes Jahr her sein, als sie das letzte Mal hier weilten und bei den Gesprächen in der Einlass-Schlange wurde deutlich, wie sehr sich viele freuten, endlich wieder ein Konzert in der Philharmonie genießen zu dürfen.
Bevor die ersten Töne mit der Sinfonie Nr. 27 G-Dur von Joseph Haydn erklangen, erzählte Martin Studer, Dirigent des Neuen Züricher Orchesters (NZO) mit charmanten Schweizer Akzent, dass dieses Festkonzert nicht nur den Hintergrund des Jubiläums 30 Jahre Wiedervereinigung hat, sondern man auch auf 30 Jahre Neues Züricher Orchester zurückblicken kann. Das NZO ist dabei kein normales Orchester, sondern eine gemeinnützige Institution, die sich insbesondere der Nachwuchsförderung widmet. So sind in diesen 30 Jahren mehr als 1400 junge MusikerInnen aus der Schweiz und vielen anderen Ländern im Orchester durch das Zutun der Phil-A, der Swiss Philharmonic Academy gefördert worden, welche nach dieser Phase in vielen anderen Orchestern weltweit ein neues Zuhause fanden. „So fungiert unser Orchester quasi als Durchlauferhitzer“, stellte Martin Studer scherzhaft fest, welches immer wieder neue Talente in seine Reihen aufnimmt.
Apropos Talente: Drei talentierte Solisten lernte das Publikum in diesem Festkonzert kennen. Einer davon ist der 1988 in Thun geborene Manuel Leuenberger, der seine musikalischen Qualitäten auf dem Marimbaphon entfaltete. Johann Sebastian Bachs Klavierkonzert d-Moll BWV 1052 wurde eigens für Orchester und Marimbaphon transkribiert und der junge Musiker, der nicht selten mit vier Schlägeln gleichzeitig und obendrein in unterschiedlichen Tempi operierte, beeindruckte mit seinem Spiel. Vor allem in den schnellen Passagen wirbelten die Schlägel über das selten zu hörende Musikinstrument, was bei den Konzertbesuchern viel Bewunderung hervorrief, welche sie am Ende mit langem Applaus und Bravo-Rufen zum Ausdruck brachten.
Und auch das zweite Talent, der gerade 12-jährige Trompeter Simon Gabriel spielte souverän und als würde ihm der Auftritt in einem solch großen Saal nichts ausmachen, seinen Part in den Variationen F-Dur für Trompete und Orchester von Friedrich Dionys Weber hervorragend. In dem elfminütigen Werk gab er den Ton an und kommunizierte gekonnt per Blickkontakt mit dem Dirigenten kurz vor seinen Einsätzen. Die Jubelrufe des Publikums nahm er freudig an, während bei der Mama die Tränen des Stolzes, der Freude und der Rührung flossen.
Als Dritte im Bunde brillierte die 1981 in München geborene Rebekka Hartmann im Violinkonzert Nr. 3 G-Dur KV 216 von Wolfgang Amadeus Mozart mit ihrem temperamentvollen Geigenspiel. Bereits im zarten Alter von fünf Jahren hatte sie damit begonnen und mittlerweile wie auch Manuel Leuenberger und Simon Gabriel schon viele Preise gewonnen. In dem gefälligen Mozart-Stück mit der markanten Melodienfolge, die ihr einiges abverlangte, konzentrierte sie sich nicht nur auf den eigenen Part, sondern sie ging auch stets voller Inbrunst mit dem Spiel des Orchesters mit.
Ein gelungenes Festkonzert also, voller übersprühender Freude, nicht zuletzt darüber, dass Musizierende und Rezipienten endlich einmal wieder live ein tolles Gemeinschaftserlebnis in der Philharmonie genießen durften nach dem langen Entzug. © Kerstin Weber

Wir befinden uns alle im Zustand der Pest

Deutsches Theater – Kammerspiele: Albert Camus‘ Die Pest mit Božidar Kocevski

Berlin, 27. September 2020. Vieles wurde und wird hinein interpretiert in „Die Pest“ von Albert Camus (1913 bis 1960), der Krieg und das Böse und die über die Menschen hereinbrechende Katastrophe und der Glaube oder Nichtglaube an Gott, die Schöpfung, die Existenz – alles ist irgendwie berechtigt und springt dem Leser zwischen den Zeilen entgegen.
Das alles in ein Theaterstück zu übertragen, ist allein schon eine Mammutaufgabe, dann noch die entsprechende Darstellungsform zu finden, ohne den Zuschauer allzu sehr in die hohen Sphären der Philosophie zu zwingen, macht es umso schwieriger. Natürlich geht es nicht ohne das deutliche Nachdenken über das Leben und die Schöpfung und Gott, schließlich haben wir es mit Camus zu tun. Und so lässt András Dömötör (Regie) seinen Protagonisten entsprechende Fragen aufwerfen, ohne dabei freilich objektive Antworten geben zu können.
Božidar Kocevski schlüpft im gut 80-minütigen Stück in verschiedene Rollen, übernimmt die Rolle des Erzählers und der Figuren. Bei den Dialogen springt er von einem Stuhl auf den anderen, mitunter verändert er lediglich die Haltung oder die Stimme. und schließlich trägt er auch noch die Requisiten hin und her, vornehmlich Stühle, die für Menschen stehen. Am Ende liegt eine Reihe von Stühlen im Halbkreis auf der Bühne, für jene, die an der Pest starben. Mittendrin ein kleiner Stuhl für ein Kind. „Dieses Kind war unschuldig“ so die Feststellung, dennoch wurde es nicht verschont, eine Tatsache, die dem Arzt Rieux den Glauben an einen Gott nehmen würde, wenn er denn einen hätte.
„Wir befinden uns alle im Zustand der Pest“ stellt er am Ende resignierend fest und es klingt nicht besser oder schlimmer als die These des Anfangs: „Sie sagen, der Krieg dauert nicht lange, weil der Krieg dumm ist. Aber Dummheit ist beharrlich.“ So verwundert es nicht, dass die Töne im Hintergrund düster und bedrohlich sind, die Stimme der Opernsängerin absurd verzerrt wird und das Schwarz überall vorhanden ist, selbst in den Schnipseln, die der Protagonist aus einem schwarzen Sack auf der Bühne verteilt – als Sinnbild für den schwarzen Tod und das Leben jenseits des Lichtes.
„Eine starke düstere Parabel mit starken heutigen Bezügen“ schrieb Ulrike Borowczyk am 18. Novmber 2019, wenige Tage nach der Premiere in der Berliner Morgenpost. Ja, die Bezüge zur Gegenwart sind da, allein auf Grund der philosophischen Fragen. Und natürlich gäbe es jetzt noch einen anderen Bezug – den zu Corona, aber glücklicherweise blieb die Aufführung verschont von Andeutungen in diese Richtung – und auch wenn es doch ein klein wenig gepasst hätte, so hätte es doch aber wiederum überhaupt nicht gepasst. © Kerstin Weber

Es gibt keine zwei Sorten Menschen

Hauptmann-Museum Erkner: Jutta Hoppe und Carl-Anton zu Knyphausen mit ansprechendem musikalisch-literarischen Porträt

Erkner, 6. September 2020. Auch wenn sie heute literarisch fast in Vergessenheit geraten ist, zu ihrer Zeit war George Sand (1804 bis 1876) eine bekannte und beachtete Schriftstellerin, die in Kontakt zu zahlreichen Künstlern der Epoche stand. Als Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil in Paris geboren, stellte sie schon früh gesellschaftliche Ansichten und Zwänge in Frage. „Ich habe mich schon damals gewundert, warum Frauen nicht in Hosen reiten dürfen“, so eine Hinterfragung von traditionellen Vorgaben, die sie nicht gewillt war, anzuerkennen. Diese scheinbar unbedeutende Frage deutet aber auf einen wachen Geist und einen unbedingten Willen zur Freiheit des Individuums sowie zur Gleichberechtigung der Geschlechter hin, was zu Sands Lebenszeit keineswegs an der Tagesordnung war. „Es gibt keine zwei Sorten Menschen“ schrieb sie im reifen Alter an den befreundeten Schriftsteller Gustave Flaubert (1821 bis 1880), lange nachdem sie sich für die Revolution 1848 und deren Parolen erwärmt hatte.
Auch ihr Umgang mit Männern entsprach keineswegs dem gängigen Frauenbild zur Mitte des 19. Jahrhunderts, dachte George Sand doch nicht im Traum daran, sich einem Manne unterzuordnen. Sie hatte eine Reihe von Beziehungen, zu deren bekannteren wohl jene zu Frédéric Chopin (1810 bis 1849) gehörte, mit dem sie neun Jahre lang liiert war. Entgegen sittlicher Gegebenheiten der Zeit ging sie in Ihrem Werben um einen Mann recht forsch vor und wartete nicht auf den Zufall.
Dies erfuhren die gut 20 Besucher des musikalisch-literarischen Porträts unter dem Titel George Sand – Ich lieb, also bin ich (eine Anspielung auf René Descartes‘ Cogito ergo sum − Ich denke, also bin ich) vor allem aus den Briefen, aus denen Jutta Hoppe immer wieder las. Die Schauspielerin hatte ihre Hommage an die Schriftstellerin unterhaltsam gestaltet, erzählte als George Sand einem fiktiven Journalisten aus ihrem interessanten Leben.
So erfuhren die Zuhörenden im Gerhard-Hauptmann-Haus u.a., wie es zu dem Pseudonym George Sand kam und dass sie eine „Vielschreiberin“ war. „Schreiben wurde meine Leidenschaft“. Sie schrieb acht Stunden pro Tag, dazu insgesamt rund 40.000 Briefe und sie war die bestbezahlte Schriftstellerin ihrer Zeit. Insbesondere die Beziehung mit Chopin schien sie sehr befruchtet zu haben, schrieb sie doch in diesen neun Jahren an die 30 Werke. Er übrigens ebenso.
Jutta Hoppe untermalte ihre kurzweilige szenische Darstellung mit Geigenspiel und Gesang und interagierte zudem mit Carl-Anton zu Knyphausen, welcher die Rolle des Franz Liszt am Klavier übernahm und Werke von Chopin, Liszt, Mozart, Paradis und Händel zu Gehör brachte. © Kerstin Weber

Fuge grollte mit gewaltiger Kraft über die Köpfe der Konzertbesucher

Nikolaikirche: Erstes September-Konzert beim Potsdamer Orgelsommer mit Muffat, Bach und Liszt

Potsdam, 2. September 2020. Bevor die ersten Orgeltöne durch das Kirchenschiff von St. Nikolai erklangen, hieß es wieder einmal: Mund-Nasen-Bedeckung aufsetzen und aufbehalten (!), was sich für die folgenden 75 Minuten als etwas anstrengend erwies.
Die Gastgeber hatten eine kreative Sitzordnung gestaltet – jede zweite Reihe blieb frei, die etwa 60 Konzertbesucher saßen zudem versetzt und fanden ihre Plätze durch die angebrachten Karten mit der Aufschrift „Hier bin ich richtig“ sowie orangefarbenen Schiffchen.
Das erste Stück des Abends war ein vielschichtiges Werk von Georg Muffat (1653 bis 1704), die Toccata Septima, welche der Hamburger Kirchenmusiker Moritz Schott an der Altarorgel zu Gehör brachte.
Da ein Orgelkonzert ohne Bach kaum denkbar ist, folgte im Anschluss an der großen Orgel drei kurze Werke von Johann Sebastian (1685 bis 1750), das leise Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr‘, Präludium und Fuge in C-Dur sowie Schmücke dich, o liebe Seele, deren beider Klänge nicht selten mit tiefem Unterton durch das Kirchenschiff hallten.
Ganz anders schienen die hohen Töne im ersten Teil des Werkes Fantasie und Fuge Ad nos, ad salutarem undam von Franz Liszt (1811 bis 1886) davon hüpfen zu wollen und konnten dennoch immer wieder eingefangen werden. Entgegen der Fantasie grollte die Fuge mit gewaltiger Kraft über die Köpfe der Konzertbesucher hinweg, unterbrochen von zurückhaltenden Klängen, die nach kurzem Verweilen erneut anschwollen und sich steigerten, bis das Gotteshaus beinahe zu klein erschien. Was nicht durchzuhalten war, weshalb leisere und auch melodischere Sequenzen folgten. Die gefällige Melodie plätscherte weich dahin und hielt – sich wiederholt nachziehend – gegenläufige Melodien auf Abstand.
Ein wirklich interessantes Werk des ungarischen Komponisten und Klaviervirtuosen, das in fanfarenartigen Tonfolgen gipfelt und nicht zuletzt durch seinen weltlichen Charakter besticht. © Kerstin Weber

Mit Beethoven und Masken in die neue Saison

Gärten der Welt: Erster Auftritt des Rundfunk-Sinfonieorchesters seit dem 8. März

Berlin, 29. August 2020. Während anderswo in dieser Stadt Menschen betont maskenlos durch die Straßen und schließlich in gespaltenen spaltenden Grüppchen zum Reichstag stürmten, bot sich in den Gärten der Welt kurz vor 18 Uhr ein ganz anderes Bild: Friedlich und ohne Diskussionsbedarf standen Freunde der Hochkultur vor den Absperrungen am Einlass der open-air-Arena.
Erwartungsvolle Gesichter. Voller Vorfreude. Voller Freude darüber, dass nach der langen Kultur-Dürre im Lande endlich wieder die grandiosen Töne der Meister vergangener Jahrhunderte live und haut- bzw. ohrnah erlebt werden dürfen. Wer würde sich angesichts dieser Tatsache über das Tragen einer Mund- Nasenbedeckung, über das Festhalten persönlicher Daten am Eingang oder über das luftig lockere Abstands-Sitzen in der Arena mokieren wollen? Kaum ein Gedanke wurde daran verschwendet, das – zugegeben etwas Lästige, doch mittlerweile fast schon Gewohnte – in Kauf genommen.
Lange hatten sowohl Musiker als auch Konzertbesucher geduldig gewartet, beinahe sechs Monate lang. Denn wie Dirigent Vladimir Jurowski verriet, gab es das letzte Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters am 8. März, bevor Corona ein weiteres musikalisches Miteinander unmöglich machte. Nun endlich war es wieder so weit, die Tickets vorab online gekauft, die Plätze eingenommen, die Bühne im imposanten Arena-Halbkreis fixiert und den Begrüßungs-Applaus freudig entgegen gefiebert.
Und dann? Ein ziemlich düsterer Beginn. Glücklicherweise angekündigt und erklärt: Richard Strauss (1864 bis 1949) Metamorphosen für 23 Solostreicher. „Das Stück haben wir bereits vor Corona einstudiert“, so Jurowski. So wolle man auch nicht zwingend eine Parallele ziehen zwischen der in Noten dokumentierten Empfindung des Komponisten über das Kriegsunheil und der jetzigen Pandemie, wenngleich eine gewisse Düsternis durchaus passe. Jurowski verwies zudem auf die heiteren Momente im Stück, die sich aus der wiederholten Aufnahme von Sequenzen aus Beethovens Eroica ergeben. Und in der Tat erwiesen sich die eingestreuten Töne aus der dritten Sinfonie als erfrischend und leicht inmitten der schweren Kost aus Strauss‘ Spätwerk.

Drei Werke des Meisters

Harmonischer und melodischer ging es weiter mit der Romanze für Violine und Orchester Nr. 2 F-Dur op.50 und der Romanze für Violine und Orchester Nr. 1 G-Dur op.40 von Ludwig van Beethoven (1770 bis 1827). Im Vortrag der Schwesterwerke strich Erez Ofer scheinbar mühelos über die Saiten seiner Violine und „unterhielt“ sich zwanglos mit dem Orchester. Die beiden gefälligen Stücke hatte er verinnerlicht, spielte er doch jenseits einer Notenvorlage und genießend mit geschlossenen Augen.
Nach der Pause stand dann wiederum der Jubilar des Jahres 2020 auf den Programm, von dem zu seinem 250. Geburtstag so viele Konzerte und Feierlichkeiten geplant waren und leider nicht stattfinden konnten. Nun – ein paar Monate haben wir ja noch – und weshalb denn eigentlich so genau nehmen mit dem Zeitrahmen? Wenn einer 250 wird, dann lässt sich auch gut und gern zwei Jahre feiern!
Noch einmal Beethoven also im zweiten Teil des Konzertabends mit der Sinfonie Nr.1 C-Dur op.21. Ein recht stiefmütterliches Dasein fristet das relativ selten gespielte Werk heutzutage, steht es doch zumeist im Schatten der berühmteren 3., 5., 7. und 9. Sinfonie des Meisters. Ein wenig zu Unrecht, so scheint es, wenngleich der Rezipient vielleicht etwas nachhaltiger zu hören hat und dann bei zweiten oder dritten Mal die teils lieblichen, teils forschen Melodienfolgen recht lieb gewinnen kann.
Ein rundum gelungener Konzertabend, der den etwa 800 Konzertgästen seliges Lächeln auf die Gesichter zauberte und die eine oder andere Träne der Rührung fließen ließ. Orchester und Dirigent wurden mit viel Applaus bedacht und nicht ohne Zugabe in die kühle Nacht entlassen. © Kerstin Weber
Das Synästhetische Mandala (SyMa) von Ludwig van Beethoven finden Sie auf dieser Seite.