Mit Andeutungen eine Ahnung von den Abgründen
Renaissance-Theater: Amazing family – Die Reise der Familie Mann
Berlin, 9. Juli 2021. Thomas ist Heinrich. Heinrich ist Thomas. Am Anfang hatte ich Probleme mit der Zuordnung, denn Thomas sah aus wie der echte Heinrich und umgekehrt. Vielleicht ist das Zufall in dem Sinne, dass die Schauspieler die Rollen so übernahmen, wie sie sie eben übernahmen. Vielleicht ist es Absicht des Regisseurs Torsten Fischer, der zeigen will, wie ähnlich sich die beiden Brüder bei aller Unterschiedlichkeit doch sind.
Nach zehn Minuten konnte ich mit der optischen Verwechslungs-Möglichkeit umgehen, nicht zuletzt, weil die Namen oft genug genannt werden. Übrigens nicht nur diese beiden, sondern auch die von Katia, Klaus und Erika. Die kann der Nichtkenner der Mann’schen Familie sicher noch zuordnen, wohin gegen so mancher bei der Therese, der Pamela und dem Gustaf schon überlegen muss. So lässt der Regisseur seine Figuren klugerweise erklären, wer die Figuren sind, nämlich die Giehse, die Wedekind und der Gründgens, deren Bezug zur Familie gleich noch mit angedeutet wird.
Die innere Dramatik der Familie Mann nimmt in dem beinahe zweistündigen Stück einen breiten Raum ein, zu Beginn insbesondere die der Brüder Thomas und Heinrich, die sich nicht nur in ihren politischen Auffassungen und Aktionen unterscheiden, sondern auch in ihrer Lebenseinstellung und in ihrem Lebenswandel. Während Heinrich Mann (Markus Gertken) der Bohémien ist, entscheidet sich Thomas Mann (Peter Kremer) schon früh für ein bürgerliches Leben, u.a., indem er sich gezielt die junge Katia Pringsheim (Imogen Kogge) als Ehefrau aussucht. Seiner homoerotischen Fantasien und Lieben, auf die Heinrich im Stück mit spitzer Zunge hinweist, muss Thomas sich vor allem in jungen Jahren selbst so gut wie möglich erwehren, die Tagebücher aus jener Zeit könnten Aufschluss darüber geben, doch die hat er vernichtet.
Die Bürgerlichkeit des Zauberers und Gründgens mit der Mephisto-Maske
Gegen die bürgerliche Fassade rennen Erika (Judith Rosmair) und vor allem Klaus (Boris Aljinovic), die älteren von sechs Kindern Thomas Manns, permanent an. Der Zauberer, wie sie den Vater nennen, ist für sie weniger Vater, sondern der Herr im Haus, nach dem sich alle zu richten haben. Sie haben ruhig zu sein, wenn er des Vormittags schreibt und wenn er des Nachmittags ruht. So verwundern die enge Beziehung der beiden Ältesten zueinander ebensowenig wie ihre sehr konkret angedeuteten chaotischen und in vieler Hinsicht ausufernden Eskapaden.
Nicht leichter werden die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander, als sich die politischen Ereignisse ab 1933 verschärfen und sich die Familie schließlich genötigt sieht, zunächst in die Schweiz und dann in die USA zu emigrieren. Als Gegenspieler lässt der Regisseur hier Gustaf Gründgens (Guntbert Warns) agieren, der im Stück zu einem Protagonisten wird, obwohl er doch nur kurzzeitig als Erikas Gatte ein Familienmitglied der Manns ist. Klaus stellte dem Schwager in seinem Roman „Mephisto“ ein wenig rühmliches Zeugnis aus und Torsten Fischer lässt die Romanfigur Hendrik Höfgen mit seiner Mephisto-Maske auftreten, die sich im Übrigen nicht von jener der Figur Gustaf Gründgens unterscheidet.
Aus der Fülle an Informationen und heute bekannten Gegebenheiten aus dem Leben der Familie Mann die wichtigen herauszufiltern, ist ein schwieriges Unterfangen. Torsten Fischer ist das in diesem ansprechenden und anspruchsvollen Stück gut gelungen. Der Kenner kann kaum etwas vermissen, die Abgründe sind greifbar und durch die jeweiligen Andeutungen vermitteln sie eine Ahnung. Möglicherweise ist das Gründgens-Thema in Bezug auf das Gesamtkonzept ein wenig zu lang geraten, dennoch ist es deswegen nicht uninteressanter, ganz im Gegenteil.
Zu erwähnen seien am Ende noch die musikalische Untermalung am Piano durch Harry Ermer sowie die tolle Verwandlungsfähigkeit Noëlle Haeselings, die gleich in mehrere Rollen schlüpft. © Kerstin Weber |