Bühnenelemente und Figuren im Pirouetten-Taumel
Berliner Ensemble: Ibsens Gespenster geistern in schwarzem Dunkel über die Bühne
Berlin, 9. Oktober 2020. Die Lebenslüge trägt Trauer. Sie ist schwarz. Schwarz wie die Kleidung der Protagonisten auf der Bühne des Berliner Ensembles, schwarz wie die sich ständig verändernden Kulissen, schwarz wie der nur dunkel zu erahnende Himmel über dem Landgut der Alvings. Die Lebenslüge der Helene Alving (Corinna Kirchhoff) bleibt so lange im Dunkel der Verdrängung, bis die Gewitterwolken sich krachend über der Familie entladen und den Schmutz der Vergangenheit noch schmutziger machen.
Hätte die liebende Mutter denn ahnen können, was der Arzt im fernen Paris dem kranken Sohne offenbarte: Da ist von ihrer Geburt an etwas Wurmstichiges in ihnen. […] Die Sünden der Väter werden heimgesucht an ihren Kindern. Osvald Alving (Paul Zichner) glaubt, der Vater sei ein ehrenwerter Mann gewesen, doch das war er keineswegs, der Verblichene nahm es mit der Treue nicht so ernst, ganz im Gegenteil. Bei einer seiner Eskapaden hatte er das Dienstmädchen geschwängert, das eiligst mit Tischler Engstrand (Wolfgang Michael) vermählt wurde und deren Tochter Regine (Judith Engel) nun ahnungslos im Hause Alving lebt.
Osvald – schon gezeichnet durch die dem Vater zu verdankende Syphilis – verliebt sich prompt in das schöne Geschöpf, was Alvine freilich zu verhindern sucht. Klagevoll äußert sie die berühmten Worte zu sich ebenso wie zu Pastor Manders (Veit Schubert): Als ich Regine und Osvald da drinnen hörte, war es mir, als ob ich Gespenster vor mir sah. Aber ich glaube fast, wir sind allesamt Gespenster, Pastor Manders. Es ist ja nicht nur, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, das in uns herumgeistert; auch alte, abgestorbene Meinungen aller Art, alte, abgestorbene Überzeugungen und ähnliches. Sie sind nicht lebendig in uns; aber sie sitzen doch in uns fest, und wir können sie nicht loswerden. Wenn ich nur eine Zeitung zur Hand nehme und darin lese, sehe ich solche Gespenster zwischen den Zeilen herumschleichen. Die scheinen im ganzen Land zu leben. Sie scheinen so zahllos zu sein wie Sandkörner. Und darum sind wir auch so gotterbärmlich lichtscheu, wir alle miteinander.
Eine weise Aussage inmitten dieser schwarzen Lichtscheue, dennoch zögert sie, die Wahrheit in Gänze zu offenbaren bzw. wird in den entscheidenden Augenblicken gestört. Für Osvald ist es ohnehin nur noch von sekundärer Bedeutung, denn er ist bereits vom Wahnsinn gekennzeichnet, dem er am Ende verfällt.
Rauminhalte erneuern sich wie durch Geisterhand
Die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik setzt in ihrer Inszenierung des Stückes von Henrik Ibsen (1828 bis 1906) glücklicherweise nicht auf Sparsamkeit, weder bezüglich der Worte, noch hinsichtlich der Kulissen. Die Kostüme der Protagonisten sind dem Stück gemäß, die Räume, in denen sie sich bewegen, sind sichtbar gemacht, jenseits der Kargheit, wie sie in so mancher Inszenierung als chic verkauft wird oder vielleicht auch auf das Wesentliche reduziert. Die vorherrschende Farbe ist Schwarz, das Dunkel ist überall, um die Figuren herum, in ihnen, in ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die Drehpunkte der drei rotierenden Bühnenteile bewegen sich um die eine Mitte, in welcher die wichtigsten Aussagen gemacht werden, in denen das Geschehen in Fahrt kommt, in welcher schließlich auch das böse Ende naht. Mitunter gestaltet sie sich jedoch auch als mittiges schwarzes Loch, wenn die Akteure rechts und links davon zwar miteinander sprechen, jedoch nicht direkt, sondern in den Raum hinein, als sprächen sie aneinander vorbei.
Bei den häufigen Szenenwechseln im – an Türen überreichen Gartenzimmer – der Familie Alving erneuern sich die Rauminhalte im Hintergrund scheinbar wie von selbst, wie durch Geisterhand veränderen sie sich, dank der bisweilen gar nicht so unsichtbaren „Gespenster“, die im off die Bühnenelemente den neuen Szenen anpassen und diese geschwind um ihre eigenen Achsen drehen – ganz wie die Figuren, die aus ihrem Pirouetten-Taumel kaum hinauszufinden in der Lage sind. © Kerstin Weber
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