Wenn die Worte nicht mehr ausreichen, kommt die Musik dazu

Zitadelle Spandau: Jochen Kowalski und Prof. Günther Albers mit Enoch Arden im Gotischen Saal

Berlin, 6. November 2021. Jeden Moment meint man, er müsse zum Gesange anheben, doch nein, das tut er nicht. Nicht ein einziges Mal bindet er die Stimme an die Noten, vereint er melodische Sequenzen. Nicht aus ihm heraus kommen dieses Mal die musikalischen Töne, sondern ganz allein aus dem Flügel.
Der weltberühmte Countertenor Jochen Kowalski erzählte im passenden und ansprechenden Ambiente des Gotischen Saales der Zitadelle Spandau eine Geschichte, er las Enoch Arden, ein literarisches Werk von Alfred Tennyson aus dem Jahre 1864, das auf Regisseure und Schauspieler in der Vergangenheit immer wieder einen besonderen Reiz ausübte, so dass sie sich mit diesem Werk auseinandersetzten. Selbiges tat Richard Strauss im eigenen Metier, der musikalischen Form.
Seit einigen Jahren beschäftigt sich Jochen Kowalski mit dem Konzert-Melodram, es spricht ihn an, zum einen in der Rezitation, zum anderen in der Verbindung der beiden Genres. Wenn die Worte nicht mehr ausreichen, kommt die Musik dazu und das ist etwas ganz Fantastisches sagte er vor geraumer Zeit in der Bremer Talkshow 3nach9.
Das fanden vermutlich auch die Besucher, die am Samstag in den Genuss des Konzert-Melodrams Enoch Arden kamen. Jochen Kowalski las und Prof. Günther Albers begleitete am Flügel. Wenngleich der Begriff las natürlich stark untertrieben ist. Kowalski las nicht einfach vor, er rezitierte, ja er spielte das Werke geradezu in den Zuschauerraum hinein, mal leise zurückhaltend, mal laut, dramatisch, ergreifend. Beinahe wie ein Schauspieler (der jeder Sänger zu sein wünscht, wie er in besagter Talkshow bekannte), aber doch nicht ganz, mehr noch wie der Sänger, der zwischen dem Gesange die Worte spricht: Akzentuiert, deutlich, nachdrücklich, hochkonzentriert, eindringlich, inbrünstig und stets emotional.
Als die letzten Töne und Worte verklungen waren und der Applaus durch den Saal hallte, kam da noch einmal eine kleine Hoffnung auf, er möge vielleicht die Stimme zum – abschließenden, gern auch nur ganz kurzen – Gesange erheben. Aber nein – dieses Mal nicht. © Kerstin Weber

Die Synästhetischen Mandalas (SyMas) von Jochen Kowalski finden Sie hier.
Auf der Homepage von Jochen Kowalski findet sich ein Hinweis auf meine Rezension (Bitte nach unten scrollen!): Hier

Die großen Leute sind entschieden sehr, sehr wunderlich

Theater im Delphi: Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz mit Klamauk und Kauderwelsch

Berlin, 25.Dezember 2021. Nach vier Hochkultur-Konzerten in Philharmonie und Konzerthaus dachte ich mir dieser Tage: Warum sich nicht auch einmal wieder ein gutes literarisches Theater-Erlebnis gönnen?!
Und so begab ich mich erwartungsfroh ins Theater im Delphi – bekannt für interessante und außergewöhnliche Inszenierungen der Drehbühne Berlin – um Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz zu erleben.
Und zunächst fühlte ich mich auch recht wohl. Die beiden Schauspieler der Sprech-Szenen spielten gut und entsprechend der Vorlage, wurden von Live-Musik begleitet und die diversen Planetenbewohner, denen der kleine Prinz auf seiner Reise begegnet, konnte das Publikum auf der Leinwand eingespielt sehen. Eine tolle und kreative Mischung, die das Ganze abwechslungsreich machte. Und dabei hätte man es auch bewenden lassen können. Leider jedoch gab es zusätzlich ein Puppenspiel, welches die schöne Inszenierung nicht etwa positiv potenzierte, sondern eher zerstörte. Nun mögen Schlange, Geier, Ratte etc. eine Auftritts-Berechtigung haben, warum aber in dieser schrillen Dümmlichkeit? Da faseln zwei Geier minutenlang ein Kauderwelsch, das niemand versteht, gehen aufeinander los, brüllen, z.T. mit hoher hysterischer Stimme, so dass ich mich frage: Was soll jetzt dieser Klamauk? Teile des Publikums, vor allem die Kinder (aber keineswegs nur) fanden diese Szenen ganz besonders lustig. War das am Ende der Grund, das Stück mit solch niederschwelligen Albernheiten zu versehen, um auch noch dieses tolle, hintergründige Werk als Mainstream massentauglich zu machen? Als ob es davon nicht schon genug gäbe.
Mit den Worten des kleinen Prinzen stelle ich einmal mehr fest: Die großen Leute sind entschieden sehr, sehr wunderlich.
So begegne ich den kleinen Prinzen lieber ganz privat beim Lesen, dann nerven mich nicht auch noch zusätzlich die polternden Füße gelangweilter Kinder, die laut schnäuzenden und noch lauter plappernden Mütter.
Ich tat, was ich wirklich selten tue: Ich ging in der Pause. Es war mir ein Bedürfnis. © Kerstin Weber

Fragen in den Köpfen der Zuschauer platziert

Theater unterm Dach: Kafkas Forschungen eines Hundes

Berlin, 23. Oktober 2021. Ist der Hund der Mensch? Ist der Mensch der Gott? Kann der Hund mit seinem Verstand den Menschen nicht fassen, wie der Mensch Gott nicht fassen kann?
Diese und ähnliche Fragen mag man sich stellen bei Franz Kafkas Erzählung Forschungen eines Hundes (1922, Nachlass), die das Theater unterm Dach jetzt auf die Bühne brachte.
Regisseur Fabian Rosonsky erzählte uns im Anschluss an das Ein-Mann-Stück, dass er vor einiger Zeit Corona bedingt genau das hatte – ein bissl Zeit – und überlegte, was man denn als nächstes spielen könnte, wenn man denn endlich wieder spielen darf. Ich griff ins Regal und hatte einen Kafka-Band in den Händen, so Rosonsky. Seine Wahl fiel eben auf jenen nicht leicht zu spielenden und nicht leicht zu verstehenden Text, der irgendwie typisch Kafka ist und doch auch wieder nicht. Die vielen Fragen, die er aufwirft, können keineswegs auf die Schnelle beantwortet werden. Schauspieler Ulrich Hoppe aber bemüht sich gut 70 Minuten lang, diese zumindest einmal nachdrücklich in den Köpfen der Zuschauer zu platzieren. Er berichtet, fragt, zweifelt – zutiefst menschliche Anwandlungen – er jault, bellt, frisst – zutiefst hündische Eigenschaften. Tja – entscheiden Sie selbst, wie viel Hund und wie viel Mensch uns da gegenüber steht! Gelegenheit dazu gibt es am 6. und 7. November, jeweils 20 Uhr im Theater unterm Dach. Und auch für das kommende Jahr sind weitere Vorstellungen geplant. © Kerstin Weber

Männerquartett ehrt Thomas Bernhard

Zimmertheater Steglitz: Premiere – Thomas-Bernhard-Abend

Berlin, 8. Oktober 2021. Als Lesung in diversen Medien angepriesen, ist es viel mehr als das: Eine schauspielerische Lesung, ein gelesenes Schauspiel. Wie auch immer, Richard Maschke, Günter Rüdiger, Marcus Weiß und Andreas Schmidt-Hartmann (Piano) lassen den österreichischen Autor Thomas Bernhard (1931 bis 1989) im Zimmertheater Steglitz auferstehen.
Thomas Bernhard 90 – Tatsächlich eine Komödie lautet der Titel des Abends, mit dem die vier Künstler an diesem Freitag ihr Publikum unterhalten, erfreuen und bisweilen sogar zum Lachen bringen. Letzteres mag erstaunen, wird Thomas Bernhard, der nicht einmal für Marcel Reich-Ranicki leichte Kost war, kaum mit Humor oder gar belustigender Unterhaltung verbunden. Und ganz so ist es dann natürlich auch nicht, wie beispielsweise beim Stück Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen (1986), einer fiktiven Unterhaltung zwischen Thomas Bernhard und Claus Peymann, denn oft sind die Lacher sehr vordergründiger Natur, während sich dahinter der Galgenhumor versteckt bzw. dem Zuschauer das Lachen im Halse stecken bleibt, wenn sich am Ende einer Geschichte, wie z.B. Die Mütze (1986), alles ins Tragische verkehrt und somit jeder vorangegangene Lacher ad absurdum geführt wird. Der Leser hat mit dieser Geschichte einen sehr schwierigen Prosatext vor sich, an dem schon mancher Literaturfreund mit seinen Interpretationsversuchen gescheitert ist schreibt Wilhelm Kesting in einer Kritik. An diesen schwierigen Text wagt sich Günter Rüdiger heran, liest und spielt diesen zweigeteilt vor und nach der Pause und erzeugt durchaus den einen oder anderen Lacher, der sich durch den Text selbst ergibt wie ebenso durch die passende Mimik und Gestik. Doch wie gesagt, kommt das Ende alles andere als humorig daher: Der Protagonist, der die ganze Zeit über versucht, den Besitzer einer gefundenen Mütze zu finden, bekennt am Ende, dass er nicht nach Hause gehen will, weil dort die Einsamkeit über ihn kommt. Hat er deshalb die so sinnlos erscheinende Suche begonnen? Da gibt es dann tatsächlich nichts mehr zu lachen.
Richard Maschke ist der Thomas-Bernhard-Kenner und hat den Großteil der Texte dieses Abends ausgesucht, erfahren wir im Gespräch nach der gelungenen Premiere von den Schauspielern. Schnell entwickelt sich eine angeregte Unterhaltung – das ist toll – denn wo kann sich der Rezipient heute schon noch unmittelbar nach der Vorstellung oder überhaupt mit den Künstlern über das soeben Gesehene und Gehörte austauschen? Im Zimmertheater mit dieser ganz eigenen angenehmen familiären Atmosphäre ist das möglich.
So ist es durchaus auch an der Zeit, einmal Danke zu sagen, danke insbesondere an Günter Rüdiger, der sich trotz aller Schwierigkeiten (keine Corona-Hilfe, 7 Monate Schließung) immer wieder etwas Neues einfallen lässt, durchhält und den Mut nicht verliert. © Kerstin Weber

Mit Andeutungen eine Ahnung von den Abgründen

Renaissance-Theater: Amazing family – Die Reise der Familie Mann

Berlin, 9. Juli 2021. Thomas ist Heinrich. Heinrich ist Thomas. Am Anfang hatte ich Probleme mit der Zuordnung, denn Thomas sah aus wie der echte Heinrich und umgekehrt. Vielleicht ist das Zufall in dem Sinne, dass die Schauspieler die Rollen so übernahmen, wie sie sie eben übernahmen. Vielleicht ist es Absicht des Regisseurs Torsten Fischer, der zeigen will, wie ähnlich sich die beiden Brüder bei aller Unterschiedlichkeit doch sind.
Nach zehn Minuten konnte ich mit der optischen Verwechslungs-Möglichkeit umgehen, nicht zuletzt, weil die Namen oft genug genannt werden. Übrigens nicht nur diese beiden, sondern auch die von Katia, Klaus und Erika. Die kann der Nichtkenner der Mann’schen Familie sicher noch zuordnen, wohin gegen so mancher bei der Therese, der Pamela und dem Gustaf schon überlegen muss. So lässt der Regisseur seine Figuren klugerweise erklären, wer die Figuren sind, nämlich die Giehse, die Wedekind und der Gründgens, deren Bezug zur Familie gleich noch mit angedeutet wird.
Die innere Dramatik der Familie Mann nimmt in dem beinahe zweistündigen Stück einen breiten Raum ein, zu Beginn insbesondere die der Brüder Thomas und Heinrich, die sich nicht nur in ihren politischen Auffassungen und Aktionen unterscheiden, sondern auch in ihrer Lebenseinstellung und in ihrem Lebenswandel. Während Heinrich Mann (Markus Gertken) der Bohémien ist, entscheidet sich Thomas Mann (Peter Kremer) schon früh für ein bürgerliches Leben, u.a., indem er sich gezielt die junge Katia Pringsheim (Imogen Kogge) als Ehefrau aussucht. Seiner homoerotischen Fantasien und Lieben, auf die Heinrich im Stück mit spitzer Zunge hinweist, muss Thomas sich vor allem in jungen Jahren selbst so gut wie möglich erwehren, die Tagebücher aus jener Zeit könnten Aufschluss darüber geben, doch die hat er vernichtet.

Die Bürgerlichkeit des Zauberers und Gründgens mit der Mephisto-Maske

Gegen die bürgerliche Fassade rennen Erika (Judith Rosmair) und vor allem Klaus (Boris Aljinovic), die älteren von sechs Kindern Thomas Manns, permanent an. Der Zauberer, wie sie den Vater nennen, ist für sie weniger Vater, sondern der Herr im Haus, nach dem sich alle zu richten haben. Sie haben ruhig zu sein, wenn er des Vormittags schreibt und wenn er des Nachmittags ruht. So verwundern die enge Beziehung der beiden Ältesten zueinander ebensowenig wie ihre sehr konkret angedeuteten chaotischen und in vieler Hinsicht ausufernden Eskapaden.
Nicht leichter werden die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander, als sich die politischen Ereignisse ab 1933 verschärfen und sich die Familie schließlich genötigt sieht, zunächst in die Schweiz und dann in die USA zu emigrieren. Als Gegenspieler lässt der Regisseur hier Gustaf Gründgens (Guntbert Warns) agieren, der im Stück zu einem Protagonisten wird, obwohl er doch nur kurzzeitig als Erikas Gatte ein Familienmitglied der Manns ist. Klaus stellte dem Schwager in seinem Roman „Mephisto“ ein wenig rühmliches Zeugnis aus und Torsten Fischer lässt die Romanfigur Hendrik Höfgen mit seiner Mephisto-Maske auftreten, die sich im Übrigen nicht von jener der Figur Gustaf Gründgens unterscheidet.
Aus der Fülle an Informationen und heute bekannten Gegebenheiten aus dem Leben der Familie Mann die wichtigen herauszufiltern, ist ein schwieriges Unterfangen. Torsten Fischer ist das in diesem ansprechenden und anspruchsvollen Stück gut gelungen. Der Kenner kann kaum etwas vermissen, die Abgründe sind greifbar und durch die jeweiligen Andeutungen vermitteln sie eine Ahnung. Möglicherweise ist das Gründgens-Thema in Bezug auf das Gesamtkonzept ein wenig zu lang geraten, dennoch ist es deswegen nicht uninteressanter, ganz im Gegenteil.
Zu erwähnen seien am Ende noch die musikalische Untermalung am Piano durch Harry Ermer sowie die tolle Verwandlungsfähigkeit Noëlle Haeselings, die gleich in mehrere Rollen schlüpft. © Kerstin Weber