Literatur-Kunst

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Die sieben Häutungen


Alles, was K. benötigt, ist eine Rasierklinge.
Nur eine? Für so viele Häute?
Nun – es ist besser für Nachschub zu sorgen, falls die eine Rasierklinge doch nicht ausreichen sollte.
Möglicherweise wird sie während der Arbeit stumpf und was wäre dann erreicht?
So legt K. sich ein ganzes Päckchen Rasierklingen bereit. Wenn die nicht ausreichen, dann würde er den Zweck des Vorhabens wohl unterschätzt haben.
Sie liegen vor ihm auf dem Tisch. Reflektieren das schwache Licht. Jede aus einem anderen Winkel.
Sie sind sehr verschieden.
Sie sind schön.
Ihre Schönheit offenbart sich in der Nützlichkeit.
K. nimmt die erste Rasierklinge und beginnt sein Werk.
Zunächst sticht er ein winziges Loch in seine rechte Ferse.
Kein Blut.
Das ist in diesem Anfangsstadium richtig.
Von der Ferse führt er die Rasierklinge im flachen Winkel entlang des seitlichen Innenfußes in Richtung des großen Zehs.
Noch immer kein Blut.
Bis dahin – gut.
Der nächste Schnitt verläuft entlang der Zehen, ein weiterer gesellt ich dazu, über dem Spann.
Jetzt kann K. den ersten größeren Hautlappen entfernen. Vorsichtig klappt er ihn um.
Fein.
Nun muss er ihn nur noch abschneiden, das ist rasch erledigt.
Am linken Fuß geht die Prozedur schon wesentlich schneller. K. lernt flott, die Technik ist nicht schwer.
Weiter nur – nicht innehalten. Es folgen Beine, Bauch, Rücken, Arme und Hände. Immer rascher gelingt es K., die vielen Hautlappen zu entfernen. Zum Schluss nimmt er sich sein Gesicht vor. Dabei kommen ihm Bedenken. Ja beinahe zeigt sich da ein wenig Angst. Was ist, wenn er durch die Entfernung der Haut genau dieses, sein Gesicht, verliert.
Ach was, nur Mut, sagt er sich. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
Und ich gewinne, indem ich verliere.
Tatsächlich bemerkt er bald, dass seine Angst unbegründet ist.
Im steigenden Tempo enthäutet K. seinen gesamten Körper.
Und nicht nur ein Mal. Sieben Mal im Ganzen zieht er Hautlappen um Hautlappen von sich.
Mit jeder entfernten Hautschicht fühlt er sich leichter.
Befreiter.
Frei.
Ohne Haut ist K. frei.
An nichts können ihn die Häute mehr binden.
K. verbrennt sie im Kamin. Nichts soll übrig bleiben von ihnen. Nicht einmal die Asche der Häute kann er in seiner Nähe dulden. Sie muss vergraben werden. An einem entlegenen Ort.
K. will niemals wieder in diesen Häuten sein.
Er spürt sein Glück.
Diese Befreiung.
Was seine neu gewonnene Haut-Unabhängigkeit trübt, ist das Fehlen jeglichen Blutes.
Er hatte sich mehrere Male stark geschnitten, das bleibt nicht aus bei einer Häutung.
Aber nicht ein einziges Mal war aus einer dieser Wunden auch nur das winzigste Tröpfchen Blut gekommen … © Kerstin Weber

 

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In rotbrauner Landschaft aus Stein

K. eilt durch die Straßen. Biegt bald links in eine Seitengasse ein, deren Namen er nicht kennt. Biegt bald rechts in eine andere Straße ein, die er nie zuvor gesehen hat. Die Häuser ragen weit in den Himmel, ihr oberes Ende ist nicht zu sehen. Wahrscheinlich fallen sie nach hinten ab. So müsste man eine Straße links gehen und noch einmal eine Straße links, um das obere Ende sehen zu können. K. unternimmt den Versuch, geht vorsichtig zunächst um die erste Ecke, dann um die zweite. Doch das obere Ende der vorher ausgemachten Häuser sieht er nicht. Wo sind sie? Er ist sicher in die falsche Straße eingebogen, ist zu weit gegangen. Aber nein – vorher gab es keine Abzweigung. K. geht zurück. Irgendwo hier in dieser Straße muss es einen Zugang geben. Den Zugang zu einer verborgenen Straße. Einer Straße, die von der großen Straße nicht einzusehen ist. K. eilt immer weiter, immer schneller. Bald erhellt sich die Landschaft aus Stein scheinbar und lässt einen Blick auf die hohen Häuser frei. Doch sind es wieder nicht die Häuser, die K. sucht. Er hat sich verlaufen. Er hat sich völlig zwischen den Häusern verirrt. Zurück. Zurück muss er. Das Ganze noch einmal von vorn beginnen. Er geht bis zu einer kleinen Kreuzung vor der großen Straße. War er von links gekommen oder von rechts? Andersherum sieht alles andersherum aus.  Während die Landschaft aus Stein sich nie und nimmer verändert. Wie soll man die Steine auch unterscheiden, wenn sie alle grau sind? K. entscheidet sich, rechts zu gehen. Denn er war zwei Mal links abgebogen. Nur – war das schon hier gewesen oder doch viel früher? Das kann er nicht mit Sicherheit sagen. An den Häusern kann er die Richtigkeit einer Entscheidung nicht festmachen. Wenngleich ihm diese hier nicht ganz so hoch erscheinen. Bald gelangt K. an eine weitere Kreuzung, wieder wählt er – scheinbar folgerichtig – die rechte Abzweigung. Doch auch hier findet er nicht die Häuser ohne oberes Ende. Schon überlegt er, ein Stück weit zurückzugehen, als ihm ein schmaler Spalt zwischen zwei Häusern ins Auge fällt. Eilig drängt er sich hindurch. Als sich die schmale Gasse erweitert, lässt sie den Blick frei auf eine große Häuserfront. K. schaut an einer hohen Wand hinauf. Mehrere Fenster türmen sich zwischen den Mauersteinen übereinander. Hinter dem zweiten Fenster spürt er eine Bewegung. Winzig nur, gering, beinahe zu vernachlässigen. Doch brennt sich sein Blick auf die graue Gardine. Die mit einem plötzlichen Ruck zur Seite geschoben wird. Zum Vorschein kommt eine Frau. Nicht mehr ganz jung. Mit kurz geschorenem dunklen Haar und großen ebenso dunklen Augen. Sie sieht K. an und auch er kann den Blick nicht von ihr wenden. Unverhofft winkt sie. Als würde sie ihn grüßen. Überrascht – aus einem Reflex des antworten Müssens heraus – winkt K. zurück, zuckt aber noch im Senken des Armes zusammen und schaut sich um. Nein – hier war er noch nie gewesen. Noch niemals. K. strafft sich, schlägt seinen Kragen hoch, schließt seinen Mantel bis zum letzten Knopf und eilt schnellen Schrittes weiter. © Kerstin Weber

Aus: Franz Kafka Ein Bericht für eine Akademie Im Gitter an der Wand. Zu: Franz Kafka Ein Bericht für eine Akademie
 Zu: Franz Kafka Das Schloss
Franz Kafka Die Bäume Scheinbar. Zu: Franz Kafka Die Bäume
Zu: Franz Kafka Ein Hungerkünstler
Aus: Franz Kafka Ein Hungerkünstler
Franz Kafka: Die Verwandlung
Arthur…
…Schnitzler…
Reigen