Rezensionen 2020

Bühnenelemente und Figuren im Pirouetten-Taumel

Berliner Ensemble: Ibsens Gespenster geistern in schwarzem Dunkel über die Bühne

Berlin, 9. Oktober 2020. Die Lebenslüge trägt Trauer. Sie ist schwarz. Schwarz wie die Kleidung der Protagonisten auf der Bühne des Berliner Ensembles, schwarz wie die sich ständig verändernden Kulissen, schwarz wie der nur dunkel zu erahnende Himmel über dem Landgut der Alvings. Die Lebenslüge der Helene Alving (Corinna Kirchhoff) bleibt so lange im Dunkel der Verdrängung, bis die Gewitterwolken sich krachend über der Familie entladen und den Schmutz der Vergangenheit noch schmutziger machen.
Hätte die liebende Mutter denn ahnen können, was der Arzt im fernen Paris dem kranken Sohne offenbarte: Da ist von ihrer Geburt an etwas Wurmstichiges in ihnen. […] Die Sünden der Väter werden heimgesucht an ihren Kindern. Osvald Alving (Paul Zichner) glaubt, der Vater sei ein ehrenwerter Mann gewesen, doch das war er keineswegs, der Verblichene nahm es mit der Treue nicht so ernst, ganz im Gegenteil. Bei einer seiner Eskapaden hatte er das Dienstmädchen geschwängert, das eiligst mit Tischler Engstrand (Wolfgang Michael) vermählt wurde und deren Tochter Regine (Judith Engel) nun ahnungslos im Hause Alving lebt.
Osvald – schon gezeichnet durch die dem Vater zu verdankende Syphilis – verliebt sich prompt in das schöne Geschöpf, was Alvine freilich zu verhindern sucht. Klagevoll äußert sie die berühmten Worte zu sich ebenso wie zu Pastor Manders (Veit Schubert): Als ich Regine und Osvald da drinnen hörte, war es mir, als ob ich Gespenster vor mir sah. Aber ich glaube fast, wir sind allesamt Gespenster, Pastor Manders. Es ist ja nicht nur, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, das in uns herumgeistert; auch alte, abgestorbene Meinungen aller Art, alte, abgestorbene Überzeugungen und ähnliches. Sie sind nicht lebendig in uns; aber sie sitzen doch in uns fest, und wir können sie nicht loswerden. Wenn ich nur eine Zeitung zur Hand nehme und darin lese, sehe ich solche Gespenster zwischen den Zeilen herumschleichen. Die scheinen im ganzen Land zu leben. Sie scheinen so zahllos zu sein wie Sandkörner. Und darum sind wir auch so gotterbärmlich lichtscheu, wir alle miteinander.
Eine weise Aussage inmitten dieser schwarzen Lichtscheue, dennoch zögert sie, die Wahrheit in Gänze zu offenbaren bzw. wird in den entscheidenden Augenblicken gestört. Für Osvald ist es ohnehin nur noch von sekundärer Bedeutung, denn er ist bereits vom Wahnsinn gekennzeichnet, dem er am Ende verfällt.

Rauminhalte erneuern sich wie durch Geisterhand

Die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik setzt in ihrer Inszenierung des Stückes von Henrik Ibsen (1828 bis 1906) glücklicherweise nicht auf Sparsamkeit, weder bezüglich der Worte, noch hinsichtlich der Kulissen. Die Kostüme der Protagonisten sind dem Stück gemäß, die Räume, in denen sie sich bewegen, sind sichtbar gemacht, jenseits der Kargheit, wie sie in so mancher Inszenierung als chic verkauft wird oder vielleicht auch auf das Wesentliche reduziert. Die vorherrschende Farbe ist Schwarz, das Dunkel ist überall, um die Figuren herum, in ihnen, in ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die Drehpunkte der drei rotierenden Bühnenteile bewegen sich um die eine Mitte, in welcher die wichtigsten Aussagen gemacht werden, in denen das Geschehen in Fahrt kommt, in welcher schließlich auch das böse Ende naht. Mitunter gestaltet sie sich jedoch auch als mittiges schwarzes Loch, wenn die Akteure rechts und links davon zwar miteinander sprechen, jedoch nicht direkt, sondern in den Raum hinein, als sprächen sie aneinander vorbei.
Bei den häufigen Szenenwechseln im – an Türen überreichen Gartenzimmer – der Familie Alving erneuern sich die Rauminhalte im Hintergrund scheinbar wie von selbst, wie durch Geisterhand veränderen sie sich, dank der bisweilen gar nicht so unsichtbaren „Gespenster“, die im off die Bühnenelemente den neuen Szenen anpassen und diese geschwind um ihre eigenen Achsen drehen – ganz wie die Figuren, die aus ihrem Pirouetten-Taumel kaum hinauszufinden in der Lage sind. © Kerstin Weber

Blick vor und zurück: Hinter uns die Zukunft

Wühlmäuse: Thomas Freitag – Premiere des neuen Programms mit autobiografischen Zügen

Berlin, 7. Oktober 2020. Das neue Programm ist eine rasante Mischung aus spitzzüngigen Aktualitäten, biografischen Bonmots und bewährten Nummern. Es ist sein 18. Soloprogramm und mit Abstand sein persönlichstes… so heißt es auf der Website des Kabarettisten, der vor wenigen Monaten seinen 70. Geburtstag feierte. Es trägt denselben Titel wie seine in diesem Jahr erschienene Autobiografie – Hinter uns die Zukunft – von der es im Untertitel des Buches heißt: Mehr als eine Autobiografie.
Das Buch lag auf dem Tisch, als der gelernte Bankkaufmann die Bühne betrat, bereit, aus diesem zu zitieren und Geschichten aus Kindheit, Jugend und jungem Erwachsenenalter zu präsentieren. So gestaltete sich das neue Soloprogramm weniger als kompakter Kabarett-Abend, sondern als Mischung aus Erzählung und Lesung mit kabarettistischen Einschüben. Ein vermutlich auch für den eingefleischten Kabarettisten ungewohntes Vorgehen, was in Verbindung mit der ersten Aufführung vor Publikum bei der Premiere zu einer Reihe von Stolperern führte und zumindest beim autobiografischen Berichten noch nicht so ganz frisch, frei, fröhlich heraussprudelte. Ganz andere bei den kabarettistischen Teilen des Programms, hier zeigte sich die Vertrautheit mit dem Metier und das sich „Zu-Hause-Fühlen“ im Genre deutlich, wie beispielsweise im Streit-Dialog Jugendlicher nicht in der heutigen Un-Sprache, sondern in gehobener Sprache früherer Zeiten.
Sehr eindringlich auch der Brief der Ameisen, dessen Inhalt zeigt, wie wenig der Mensch den Titel Krone der Schöpfung doch verdient und der einen konkreten Bezug zum Titel des Programms hat, da sich doch zeigt, wie wenig die Zweibeiner aus ihrer Vergangenheit gelernt haben, da liegt die Zukunft tatsächlich weit hinter uns.
Wer es noch nicht wusste, erfährt von den Anfängen des Thomas Freitag als Schauspieler und Kabarettist in den 1970er Jahren am Stuttgarter Renitenztheater und von seinen Begegnungen mit Gert Fröbe und Dieter Hallervorden. „Ist er zufällig heute hier“ fragte Thomas Freitag in den dunklen Zuschauerraum und eine Hoffnung ging durch den Saal, dass der künstlerische Leiter der Wühlmäuse durch eine Seitentür hereinspaziert, die Bühne betritt und sich einen kurzen kabarettistischen Wortwechsel mit dem jüngeren Kollegen gibt. Was leider nicht geschah.
Aber natürlich konnte Thomas Freitag sein neues Soloprogramm auch prima allein über die Bühne bringen, zumal es aufgrund der derzeitigen Situation auf 75 Minuten ohne Pause beschränkt war, eine Variante, welche in den Wühlmäusen als Corona-Edition präsentiert wird. Weshalb Freitag am Premierenabend nach viel Applaus und Buchsignierung im Foyer eben wegen der Dezimierung des Publikums sein Programm gut zwei Stunden später gleich noch einmal zum Besten gab. © Kerstin Weber

Durchlauferhitzer mit drei talentierten Solisten

Philharmonie: Neues Züricher Orchester mit Festkonzert zu 30 Jahre Wiedervereinigung

Berlin, 3. Oktoberber 2020. Nach einem etwas schleppend sich dahinziehenden Einlass, für den die Philharmonie bereits eine Stunde vor Konzertbeginn ihre Türen öffnete, schafften es mit Unterstützung durch farbige Markierungen und die Hilfe der freundlichen Damen und Herren im Hause dennoch alle Besucher, rechtzeitig zu ihren Plätzen zu gelangen. Bei dem einen oder anderen im spärlich besetzten Saale dürfte es wohl gut ein halbes Jahr her sein, als sie das letzte Mal hier weilten und bei den Gesprächen in der Einlass-Schlange wurde deutlich, wie sehr sich viele freuten, endlich wieder ein Konzert in der Philharmonie genießen zu dürfen.
Bevor die ersten Töne mit der Sinfonie Nr. 27 G-Dur von Joseph Haydn erklangen, erzählte Martin Studer, Dirigent des Neuen Züricher Orchesters (NZO) mit charmanten Schweizer Akzent, dass dieses Festkonzert nicht nur den Hintergrund des Jubiläums 30 Jahre Wiedervereinigung hat, sondern man auch auf 30 Jahre Neues Züricher Orchester zurückblicken kann. Das NZO ist dabei kein normales Orchester, sondern eine gemeinnützige Institution, die sich insbesondere der Nachwuchsförderung widmet. So sind in diesen 30 Jahren mehr als 1400 junge MusikerInnen aus der Schweiz und vielen anderen Ländern im Orchester durch das Zutun der Phil-A, der Swiss Philharmonic Academy gefördert worden, welche nach dieser Phase in vielen anderen Orchestern weltweit ein neues Zuhause fanden. „So fungiert unser Orchester quasi als Durchlauferhitzer“, stellte Martin Studer scherzhaft fest, welches immer wieder neue Talente in seine Reihen aufnimmt.
Apropos Talente: Drei talentierte Solisten lernte das Publikum in diesem Festkonzert kennen. Einer davon ist der 1988 in Thun geborene Manuel Leuenberger, der seine musikalischen Qualitäten auf dem Marimbaphon entfaltete. Johann Sebastian Bachs Klavierkonzert d-Moll BWV 1052 wurde eigens für Orchester und Marimbaphon transkribiert und der junge Musiker, der nicht selten mit vier Schlägeln gleichzeitig und obendrein in unterschiedlichen Tempi operierte, beeindruckte mit seinem Spiel. Vor allem in den schnellen Passagen wirbelten die Schlägel über das selten zu hörende Musikinstrument, was bei den Konzertbesuchern viel Bewunderung hervorrief, welche sie am Ende mit langem Applaus und Bravo-Rufen zum Ausdruck brachten.
Und auch das zweite Talent, der gerade 12-jährige Trompeter Simon Gabriel spielte souverän und als würde ihm der Auftritt in einem solch großen Saal nichts ausmachen, seinen Part in den Variationen F-Dur für Trompete und Orchester von Friedrich Dionys Weber hervorragend. In dem elfminütigen Werk gab er den Ton an und kommunizierte gekonnt per Blickkontakt mit dem Dirigenten kurz vor seinen Einsätzen. Die Jubelrufe des Publikums nahm er freudig an, während bei der Mama die Tränen des Stolzes, der Freude und der Rührung flossen.
Als Dritte im Bunde brillierte die 1981 in München geborene Rebekka Hartmann im Violinkonzert Nr. 3 G-Dur KV 216 von Wolfgang Amadeus Mozart mit ihrem temperamentvollen Geigenspiel. Bereits im zarten Alter von fünf Jahren hatte sie damit begonnen und mittlerweile wie auch Manuel Leuenberger und Simon Gabriel schon viele Preise gewonnen. In dem gefälligen Mozart-Stück mit der markanten Melodienfolge, die ihr einiges abverlangte, konzentrierte sie sich nicht nur auf den eigenen Part, sondern sie ging auch stets voller Inbrunst mit dem Spiel des Orchesters mit.
Ein gelungenes Festkonzert also, voller übersprühender Freude, nicht zuletzt darüber, dass Musizierende und Rezipienten endlich einmal wieder live ein tolles Gemeinschaftserlebnis in der Philharmonie genießen durften nach dem langen Entzug. © Kerstin Weber

Wir befinden uns alle im Zustand der Pest

Deutsches Theater – Kammerspiele: Albert Camus‘ Die Pest mit Božidar Kocevski

Berlin, 27. September 2020. Vieles wurde und wird hinein interpretiert in „Die Pest“ von Albert Camus (1913 bis 1960), der Krieg und das Böse und die über die Menschen hereinbrechende Katastrophe und der Glaube oder Nichtglaube an Gott, die Schöpfung, die Existenz – alles ist irgendwie berechtigt und springt dem Leser zwischen den Zeilen entgegen.
Das alles in ein Theaterstück zu übertragen, ist allein schon eine Mammutaufgabe, dann noch die entsprechende Darstellungsform zu finden, ohne den Zuschauer allzu sehr in die hohen Sphären der Philosophie zu zwingen, macht es umso schwieriger. Natürlich geht es nicht ohne das deutliche Nachdenken über das Leben und die Schöpfung und Gott, schließlich haben wir es mit Camus zu tun. Und so lässt András Dömötör (Regie) seinen Protagonisten entsprechende Fragen aufwerfen, ohne dabei freilich objektive Antworten geben zu können.
Božidar Kocevski schlüpft im gut 80-minütigen Stück in verschiedene Rollen, übernimmt die Rolle des Erzählers und der Figuren. Bei den Dialogen springt er von einem Stuhl auf den anderen, mitunter verändert er lediglich die Haltung oder die Stimme. und schließlich trägt er auch noch die Requisiten hin und her, vornehmlich Stühle, die für Menschen stehen. Am Ende liegt eine Reihe von Stühlen im Halbkreis auf der Bühne, für jene, die an der Pest starben. Mittendrin ein kleiner Stuhl für ein Kind. „Dieses Kind war unschuldig“ so die Feststellung, dennoch wurde es nicht verschont, eine Tatsache, die dem Arzt Rieux den Glauben an einen Gott nehmen würde, wenn er denn einen hätte.
„Wir befinden uns alle im Zustand der Pest“ stellt er am Ende resignierend fest und es klingt nicht besser oder schlimmer als die These des Anfangs: „Sie sagen, der Krieg dauert nicht lange, weil der Krieg dumm ist. Aber Dummheit ist beharrlich.“ So verwundert es nicht, dass die Töne im Hintergrund düster und bedrohlich sind, die Stimme der Opernsängerin absurd verzerrt wird und das Schwarz überall vorhanden ist, selbst in den Schnipseln, die der Protagonist aus einem schwarzen Sack auf der Bühne verteilt – als Sinnbild für den schwarzen Tod und das Leben jenseits des Lichtes.
„Eine starke düstere Parabel mit starken heutigen Bezügen“ schrieb Ulrike Borowczyk am 18. Novmber 2019, wenige Tage nach der Premiere in der Berliner Morgenpost. Ja, die Bezüge zur Gegenwart sind da, allein auf Grund der philosophischen Fragen. Und natürlich gäbe es jetzt noch einen anderen Bezug – den zu Corona, aber glücklicherweise blieb die Aufführung verschont von Andeutungen in diese Richtung – und auch wenn es doch ein klein wenig gepasst hätte, so hätte es doch aber wiederum überhaupt nicht gepasst. © Kerstin Weber

Es gibt keine zwei Sorten Menschen

Hauptmann-Museum Erkner: Jutta Hoppe und Carl-Anton zu Knyphausen mit ansprechendem musikalisch-literarischen Porträt

Erkner, 6. September 2020. Auch wenn sie heute literarisch fast in Vergessenheit geraten ist, zu ihrer Zeit war George Sand (1804 bis 1876) eine bekannte und beachtete Schriftstellerin, die in Kontakt zu zahlreichen Künstlern der Epoche stand. Als Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil in Paris geboren, stellte sie schon früh gesellschaftliche Ansichten und Zwänge in Frage. „Ich habe mich schon damals gewundert, warum Frauen nicht in Hosen reiten dürfen“, so eine Hinterfragung von traditionellen Vorgaben, die sie nicht gewillt war, anzuerkennen. Diese scheinbar unbedeutende Frage deutet aber auf einen wachen Geist und einen unbedingten Willen zur Freiheit des Individuums sowie zur Gleichberechtigung der Geschlechter hin, was zu Sands Lebenszeit keineswegs an der Tagesordnung war. „Es gibt keine zwei Sorten Menschen“ schrieb sie im reifen Alter an den befreundeten Schriftsteller Gustave Flaubert (1821 bis 1880), lange nachdem sie sich für die Revolution 1848 und deren Parolen erwärmt hatte.
Auch ihr Umgang mit Männern entsprach keineswegs dem gängigen Frauenbild zur Mitte des 19. Jahrhunderts, dachte George Sand doch nicht im Traum daran, sich einem Manne unterzuordnen. Sie hatte eine Reihe von Beziehungen, zu deren bekannteren wohl jene zu Frédéric Chopin (1810 bis 1849) gehörte, mit dem sie neun Jahre lang liiert war. Entgegen sittlicher Gegebenheiten der Zeit ging sie in Ihrem Werben um einen Mann recht forsch vor und wartete nicht auf den Zufall.
Dies erfuhren die gut 20 Besucher des musikalisch-literarischen Porträts unter dem Titel George Sand – Ich lieb, also bin ich (eine Anspielung auf René Descartes‘ Cogito ergo sum − Ich denke, also bin ich) vor allem aus den Briefen, aus denen Jutta Hoppe immer wieder las. Die Schauspielerin hatte ihre Hommage an die Schriftstellerin unterhaltsam gestaltet, erzählte als George Sand einem fiktiven Journalisten aus ihrem interessanten Leben.
So erfuhren die Zuhörenden im Gerhard-Hauptmann-Haus u.a., wie es zu dem Pseudonym George Sand kam und dass sie eine „Vielschreiberin“ war. „Schreiben wurde meine Leidenschaft“. Sie schrieb acht Stunden pro Tag, dazu insgesamt rund 40.000 Briefe und sie war die bestbezahlte Schriftstellerin ihrer Zeit. Insbesondere die Beziehung mit Chopin schien sie sehr befruchtet zu haben, schrieb sie doch in diesen neun Jahren an die 30 Werke. Er übrigens ebenso.
Jutta Hoppe untermalte ihre kurzweilige szenische Darstellung mit Geigenspiel und Gesang und interagierte zudem mit Carl-Anton zu Knyphausen, welcher die Rolle des Franz Liszt am Klavier übernahm und Werke von Chopin, Liszt, Mozart, Paradis und Händel zu Gehör brachte. © Kerstin Weber

Fuge grollte mit gewaltiger Kraft über die Köpfe der Konzertbesucher

Nikolaikirche: Erstes September-Konzert beim Potsdamer Orgelsommer mit Muffat, Bach und Liszt

Potsdam, 2. September 2020. Bevor die ersten Orgeltöne durch das Kirchenschiff von St. Nikolai erklangen, hieß es wieder einmal: Mund-Nasen-Bedeckung aufsetzen und aufbehalten (!), was sich für die folgenden 75 Minuten als etwas anstrengend erwies.
Die Gastgeber hatten eine kreative Sitzordnung gestaltet – jede zweite Reihe blieb frei, die etwa 60 Konzertbesucher saßen zudem versetzt und fanden ihre Plätze durch die angebrachten Karten mit der Aufschrift „Hier bin ich richtig“ sowie orangefarbenen Schiffchen.
Das erste Stück des Abends war ein vielschichtiges Werk von Georg Muffat (1653 bis 1704), die Toccata Septima, welche der Hamburger Kirchenmusiker Moritz Schott an der Altarorgel zu Gehör brachte.
Da ein Orgelkonzert ohne Bach kaum denkbar ist, folgte im Anschluss an der großen Orgel drei kurze Werke von Johann Sebastian (1685 bis 1750), das leise Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr‘, Präludium und Fuge in C-Dur sowie Schmücke dich, o liebe Seele, deren beider Klänge nicht selten mit tiefem Unterton durch das Kirchenschiff hallten.
Ganz anders schienen die hohen Töne im ersten Teil des Werkes Fantasie und Fuge Ad nos, ad salutarem undam von Franz Liszt (1811 bis 1886) davon hüpfen zu wollen und konnten dennoch immer wieder eingefangen werden. Entgegen der Fantasie grollte die Fuge mit gewaltiger Kraft über die Köpfe der Konzertbesucher hinweg, unterbrochen von zurückhaltenden Klängen, die nach kurzem Verweilen erneut anschwollen und sich steigerten, bis das Gotteshaus beinahe zu klein erschien. Was nicht durchzuhalten war, weshalb leisere und auch melodischere Sequenzen folgten. Die gefällige Melodie plätscherte weich dahin und hielt – sich wiederholt nachziehend – gegenläufige Melodien auf Abstand.
Ein wirklich interessantes Werk des ungarischen Komponisten und Klaviervirtuosen, das in fanfarenartigen Tonfolgen gipfelt und nicht zuletzt durch seinen weltlichen Charakter besticht. © Kerstin Weber

Mit Beethoven und Masken in die neue Saison

Gärten der Welt: Erster Auftritt des Rundfunk-Sinfonieorchesters seit dem 8. März

Berlin, 29. August 2020. Während anderswo in dieser Stadt Menschen betont maskenlos durch die Straßen und schließlich in gespaltenen spaltenden Grüppchen zum Reichstag stürmten, bot sich in den Gärten der Welt kurz vor 18 Uhr ein ganz anderes Bild: Friedlich und ohne Diskussionsbedarf standen Freunde der Hochkultur vor den Absperrungen am Einlass der open-air-Arena.
Erwartungsvolle Gesichter. Voller Vorfreude. Voller Freude darüber, dass nach der langen Kultur-Dürre im Lande endlich wieder die grandiosen Töne der Meister vergangener Jahrhunderte live und haut- bzw. ohrnah erlebt werden dürfen. Wer würde sich angesichts dieser Tatsache über das Tragen einer Mund- Nasenbedeckung, über das Festhalten persönlicher Daten am Eingang oder über das luftig lockere Abstands-Sitzen in der Arena mokieren wollen? Kaum ein Gedanke wurde daran verschwendet, das – zugegeben etwas Lästige, doch mittlerweile fast schon Gewohnte – in Kauf genommen.
Lange hatten sowohl Musiker als auch Konzertbesucher geduldig gewartet, beinahe sechs Monate lang. Denn wie Dirigent Vladimir Jurowski verriet, gab es das letzte Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters am 8. März, bevor Corona ein weiteres musikalisches Miteinander unmöglich machte. Nun endlich war es wieder so weit, die Tickets vorab online gekauft, die Plätze eingenommen, die Bühne im imposanten Arena-Halbkreis fixiert und den Begrüßungs-Applaus freudig entgegen gefiebert.
Und dann? Ein ziemlich düsterer Beginn. Glücklicherweise angekündigt und erklärt: Richard Strauss (1864 bis 1949) Metamorphosen für 23 Solostreicher. „Das Stück haben wir bereits vor Corona einstudiert“, so Jurowski. So wolle man auch nicht zwingend eine Parallele ziehen zwischen der in Noten dokumentierten Empfindung des Komponisten über das Kriegsunheil und der jetzigen Pandemie, wenngleich eine gewisse Düsternis durchaus passe. Jurowski verwies zudem auf die heiteren Momente im Stück, die sich aus der wiederholten Aufnahme von Sequenzen aus Beethovens Eroica ergeben. Und in der Tat erwiesen sich die eingestreuten Töne aus der dritten Sinfonie als erfrischend und leicht inmitten der schweren Kost aus Strauss‘ Spätwerk.

Drei Werke des Meisters

Harmonischer und melodischer ging es weiter mit der Romanze für Violine und Orchester Nr. 2 F-Dur op.50 und der Romanze für Violine und Orchester Nr. 1 G-Dur op.40 von Ludwig van Beethoven (1770 bis 1827). Im Vortrag der Schwesterwerke strich Erez Ofer scheinbar mühelos über die Saiten seiner Violine und „unterhielt“ sich zwanglos mit dem Orchester. Die beiden gefälligen Stücke hatte er verinnerlicht, spielte er doch jenseits einer Notenvorlage und genießend mit geschlossenen Augen.
Nach der Pause stand dann wiederum der Jubilar des Jahres 2020 auf den Programm, von dem zu seinem 250. Geburtstag so viele Konzerte und Feierlichkeiten geplant waren und leider nicht stattfinden konnten. Nun – ein paar Monate haben wir ja noch – und weshalb denn eigentlich so genau nehmen mit dem Zeitrahmen? Wenn einer 250 wird, dann lässt sich auch gut und gern zwei Jahre feiern!
Noch einmal Beethoven also im zweiten Teil des Konzertabends mit der Sinfonie Nr.1 C-Dur op.21. Ein recht stiefmütterliches Dasein fristet das relativ selten gespielte Werk heutzutage, steht es doch zumeist im Schatten der berühmteren 3., 5., 7. und 9. Sinfonie des Meisters. Ein wenig zu Unrecht, so scheint es, wenngleich der Rezipient vielleicht etwas nachhaltiger zu hören hat und dann bei zweiten oder dritten Mal die teils lieblichen, teils forschen Melodienfolgen recht lieb gewinnen kann.
Ein rundum gelungener Konzertabend, der den etwa 800 Konzertgästen seliges Lächeln auf die Gesichter zauberte und die eine oder andere Träne der Rührung fließen ließ. Orchester und Dirigent wurden mit viel Applaus bedacht und nicht ohne Zugabe in die kühle Nacht entlassen. © Kerstin Weber
Das Synästhetische Mandala (SyMa) von Ludwig van Beethoven finden Sie auf dieser Seite.